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  • Erweiterung der Eingriffsrechte der Familiengerichte und Jugendhilfe

    21.04.08


    Diese Woche im Bundestag - Gesetzesänderungen zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls

    Erweiterung der Eingriffsrechte der Familiengerichte und Jugendhilfe

    Der Bundestag befasst sich am Donnerstag, den 24. April, in zweiter und dritter Beratung mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur "Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls" (Drs 16/6815, vom 24.10.2007).

    Anlass für diesen Gesetzentwurf waren Berichte über erschütternde Fälle, in denen Kinder von ihren Eltern misshandelt oder vernachlässigt wurden. Besonders der Fall des zweijährigen Kevin in Bremen entsetzte die Öffentlichkeit. Vor dem Hintergrund solcher Fälle sowie einer Reihe von Fällen wiederholter und erheblicher Kinder- und Jugenddelinquenz hatte die Bundesministerin der Justiz im März 2006 eine Arbeitsgruppe „Familiengerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls" eingesetzt. Die Expertengruppe stellte in ihrem Abschlussbericht fest, dass die Familiengerichte häufig zu spät und überwiegend in der Frage des Sorgerechtes eingeschaltet werden. Deshalb sollen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gesetzliche Änderungen in Kraft treten, die im Wesentlichen drei Ziele erreichen sollen:

    • die Familiengerichte sollen früher eingeschaltet und tätig werden
    • das Einwirken der Familiengerichte soll erweitert werden
    • die Eltern sollen stärker verpflichtet werden, mit örtlichen Trägern der öffentlichen Jugendhilfe zusammenzuarbeiten und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe anzunehmen.

    Hierzu sollen:

    • das Tatbestandsmerkmal des "elterlichen Erziehungsversagens" in der Generalnorm des § 1666 BGB entfallen, um die maßgeblichen Voraussetzungen des familiengerichtlichen Eingriffs klarzustellen,
    • die Rechtsfolgen des § 1666 BGB durch eine beispielhafte Aufzählung konkretisiert werden, um dadurch den Jugendämtern und Familiengerichten die Bandbreite möglicher familiengerichtlicher Maßnahmen zu verdeutlichen,
    • dem Familiengericht mit der Einführung des eigenständigen Verfahrensabschnitts "Erörterung der Kindeswohlgefährdung" ein wirksames Instrumentarium zur Verfügung gestellt werden, um Eltern stärker in die Pflicht zu nehmen.

    Die gesetzlichen Neuregelungen betreffen Änderungen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) und des Gesetzes zur freiwilligen Gerichtsbarkeit. Für das Eingreifen der Familiengerichte sollen künftig folgende Regelungen im BGB Art. 1666 gelten:

    „(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind."

    (3) Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach Absatz 1 gehören insbesondere

    1. Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen,
    2. Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen,
    3. Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu nutzen, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten oder zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind regelmäßig aufhält,
    4. Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen oder ein Zusammentreffen mit dem Kind herbeizuführen,
    5. die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge,
    6. die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge."

    Die erste Beratung zu den gesetzlichen Neuregelungen fand in der 126. Sitzung des Bundestages am 15. November 2007 statt. Die zu dieser Sitzung zu Protokoll gegebenen Reden sind als Auszug im Anhang beigefügt.

    In den vorliegenden Gesetzentwurf sind Änderungen eingeflossen, die über den Bundesrat eingebracht wurden. Für die jetzige Beratung als TOP 9 der Tagesordnung sind 30 Minuten vorgesehen. Da der Gesetzentwurf in zweiter und dritter Beratung behandelt wird, muss mit der Verabschiedung der Rechtsänderungen durch den Bundestag am Donnerstag gerechnet werden. Wer jetzt noch Einfluss auf die politische Willensbildung zu diesem Gesetzentwurf nehmen wollte, käme also sicherlich zu spät.

    Der jetzige Gesetzentwurf ist im Anhang beigefügt.

    AnhangGröße
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  • Ingolf Schmid-Tannwald: Der menschliche Alltag ...

    Der
    menschliche Alltag - ein unverzichtbarer Bestandteil eines wissenschaftlichen
    Menschenbildes 1)

    von
    Ingolf Schmid-Tannwald -

    Ludwig-Maximilians-Universität München

     

    ImageJeder Mensch ist das Ergebnis
    eines zwischenmenschlichen Handelns in der menschlichen Sozialwelt und der dort
    in Gang gesetzten biologischen Prozesse. Letztere sind für den Menschen und
    andere Säuge- und Wirbeltieren prinzipiell gleicher maßen gültig und im
    gängigen naturwissenschaftlichen Fortpflanzungsmodell beschrieben.

    Aber das naturwissenschaftliche
    Modell kann dieses gewissermaßen zweifache Werden des Menschen nicht angemessen
    repräsentieren. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die menschlichen Beziehungen
    in der Sozialwelt identisch oder zumindest sehr ähnlich wären, wie die
    Lebensumstände der nichtmenschlichen Säuge- und Wirbeltiere, in denen sie ihre
    Nachkommen hervorbringen. Dann würde sich der Unterschied zwischen dem Werden
    des Menschen und jenem der anderen Säuge- und Wirbeltiere auf die biologischen
    Fakten beschränken und diese wären mit dem Fortpflanzungsmodell hinreichend
    beschrieben.

    Die Voraussetzung gleicher
    Lebenswelten bei Mensch und Tier trifft aber nicht zu. Deshalb stellt das
    Fortpflanzungsmodell eine Verfremdung des Phänomens „Mensch“ dar, noch dazu eine
    folgenschwere, vor allem am Lebensanfang, da Modelle als Bilder unser Handeln
    im Alltag leiten, vor allem, wenn sie naturwissenschaftlich
    "gesichert" erscheinen.

    Erst seit man die Bedeutung der
    zwischenmenschlichen (sozialen) Wirklichkeit des Menschen erkannt und in einem
    wissenschaftlichen Modell der phänomenologischen Soziologie beschrieben hat,
    ist es möglich, einen sehr wesentlichen, wenn nicht gar den entscheidenden
    Unterschied im Werden und Wesen von Menschen und Tieren zu beschreiben. Es ist
    im eigentlichen Wortsinn lebensnotwendig, diesen Unterschied in der Ausbildung
    von Ärzten zu vermitteln. Mit Hilfe der allgemeinen Systemtheorie und der
    Semiotik besteht sogar die Möglichkeit, das natur- und das
    sozialwissenschaftliche Modell, die getrennt nebeneinander stehen, in einem
    umfassenderen wissenschaftlichen Systemmodell des Menschen zu integrieren.

    Diskussionsbeitrag

    „Es war eine Unterlassungssünde,
    dass in den Nürnberger Ärzteprozessen neben den Ärzten, die ihre Versuche,
    statt an Mäusen und Ratten, an Menschen durchgeführt hatten, nicht auch die
    Medizin auf der Anklagebank saß, in der sie ausgebildet waren. Die Theorien, die sie dort erlernt hatten, kennen keinen
    Unterschied zwischen Menschen und Tieren.“ Thure von Uexküll [1]

    Können wir heute den Unterschied von Menschen und Tieren
    modellhaft beschreiben?

    Bekanntlich ist ein Modell
    heutzutage ein wissenschaftliches „Gedankengebilde“ und stets nur eine
    Annäherung an das im Alltag zu beobachtende Phänomen. Da aber Modelle unseren
    Umgang mit den Phänomenen im Alltag beeinflussen, wird ihre Bedeutung, aber
    auch unsere Verantwortung dafür deutlich. Das gilt besonders für Ärzte und
    deren Menschenbild.

    Das aktuelle Modell der
    menschlichen Fortpflanzung definiert modellhaft das Reproduktionsgeschehen und
    den Unterschied zwischen Menschen und Tieren, wie er von den
    Naturwissenschaften dargelegt wird. Da der Mensch (homo sapiens) zu den Säuge-
    und Wirbeltieren gehört, vermögen die unterschiedlichen biologischen
    Eigenschaften bei Tier und Mensch letztlich die Wirksamkeit dieses gängigen
    Modells in der ärztlichen Praxis (z.B. in der Reproduktionsmedizin) kaum zu
    beeinträchtigen und so scheint es, als ließen sich Mensch und Tier durch ein
    gemeinsames biologisches Modell beschreiben.

    Allerdings berücksichtigt dieses
    Modell nicht den gelebten Alltag, d.h. die lebendigen Beziehungen von Mann und
    Frau als Geschöpfe aus Fleisch und Blut in der Echtzeit (real time). Sobald man
    sich aber, etwa als Arzt, mit Fragen nach der Herkunft einzelner Menschen
    beschäftigen und bei der Anamneseerhebung in die Zeit vor der Befruchtung
    vordringen muss (z.B. im Rahmen der Familienplanung, der Beratung in
    Schwangerschaftskonflikten) wird die entscheidende Bedeutung des menschlichen
    Alltags („conditio humana“) offensichtlich. Dort wird das biologische
    Fortpflanzungsgeschehen ja überhaupt erst ausgelöst und ggf. planerisch
    beeinflusst! Den biologischen Prozessen in der Echtzeit, wie sie im Modell der
    menschlichen Fortpflanzung beschrieben sind, geht daher ein Geschehen in der „obersten“
    Wirklichkeit des menschlichen Alltags voraus. Ein möglichst wirklichkeitsnahes
    Modell des Menschen, wie es auch mit der Frage nach der Herkunft und dem Wesen
    des Menschen überhaupt aufgeworfen ist [2], muss daher der zwischenmenschlichen
    und der biologischen Dimension oder Wirklichkeit angemessen sein, d.h. auch
    ihrem zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang Rechnung tragen. Auch daraus
    wird die Unzulänglichkeit eines rein biologischen Modells für den Menschen
    deutlich und zugleich die Notwendigkeit eines umfassenderen Modells des
    Menschen [3].

    Das schrittweise Werden des
    Menschen aus zwischenmenschlichen Beziehungen im Alltag lässt sich folglich nur
    mit Hilfe zweier Modelle beschreiben; in analoger Weise benötigt man für die
    Beschreibung des Phänomens „Licht“ ein Teilchen- und ein Wellenmodell. Für das
    Phänomen „Mensch“ benötigt man ein Modell, welches die zwischenmenschliche
    (mikrosoziale) Wirklichkeit der Eltern im Alltag darstellt und ein zweites,
    das, wie unser geläufiges Fortpflanzungsmodell, die Fortpflanzungsprozesse
    repräsentiert. Nur so lassen sich diese beiden nicht anders darstellbaren, aber
    sich ergänzenden, d.h. komplementäre Wirklichkeiten von Sozialem und
    Biologischem darlegen.

    Was ist diese menschliche Alltagswelt?

    Zwar hatte man gegen Ende des
    19. Jahrhunderts (Realismus) den Alltag „entdeckt“ und auch zum Gegenstand
    philosophischer Betrachtung gemacht. In der „Lebenswelt“ sah der Philosoph E.
    Husserl, der auch diesen Begriff prägte, eine „beständige subjektive
    Restaurationsleistung zum Zwecke der Selbsterhaltung“ und der Biologe Jakob von
    Uexküll konnte aufgrund seiner physiologischen Untersuchungen zeigen, dass
    Tiere in Abhängigkeit von ihrer sensorischen und motorischen Ausstattung
    artspezifische Welten aufbauen, in denen es nichts anderes gibt als sie
    betreffende Dinge [4], [5], [6]. Auch der homo sapiens baut sich eine äußere
    Welt auf, kann aber im Unterschied zu seinen tierischen Mitgeschöpfen aufgrund
    der sich entwickelnden Objektkonstanz ab der Mitte des zweiten Lebensjahres
    eine innere Welt der Objekte in seiner Phantasie in Erscheinung treten lassen
    (d.h. sich mittels der Sprache unterschiedliche Objekte bzw. die ganze Welt
    verfügbar machen, ohne dass diese Dinge physisch anwesend sind) und sie als
    Bühne für ein, wenn schon nicht triebunabhängiges, so doch vom Zwang der
    triebhaften Steuerung loslösbares Handeln nutzen [7], [8]. Mit dem lebenslangen
    Aufbau einer individuellen Wirklichkeit, deren Erweiterung zur Zweierbeziehung
    [9] und zu noch größeren zwischenmenschlichen Wirklichkeiten [10], kann er als
    homo socius im symbolischen Austausch [11] und im gemeinsamen, sinnhaften
    Handeln als Insider, d.h. einer der den Code kennt, zusammen mit seinen
    Mitmenschen eine alltägliche Lebenswelt („oberste Wirklichkeit“) herstellen, die
    Planbarkeit und damit Konstanz gewährleistet und so das Überleben der Menschen
    im Alltag erleichtert [12]. Daraus wird im Unterschied zum Tier der menschliche
    Alltag als ein zwischenmenschliches Erzeugnis bzw. eine menschliche Sozialwelt
    erkenn- und modellhaft beschreibbar. Damit lässt sich das Werden des Menschen
    im Alltag mittels zweier Modelle exemplarisch beschreiben (siehe Abbildung 1
    (Abb. 1)):

    Image

    Abbildung
    1: Die modellhafte Beschreibung des Menschen als zweifache Wirklichkeit

    Das Modell der Fortpflanzung von
    Säugetieren (wie auch des homo sapiens) gehört zum „Reich der Modelle“ und ist
    durch einen Zaun von der Welt (Wirklichkeit) der real existierenden Lebewesen
    getrennt, in der die biologischen Prozesse überhaupt erst in Gang gesetzt
    werden. Wegen der unterschiedlichen Lebenswelten von Tieren und Menschen
    benötigt man zwei unterschiedliche Modelle (in der Modellwelt gelegen). Nun
    lässt sich der Mensch – im Gegensatz zum Tier, das nur eine biologische
    Wirklichkeit ist – wissenschaftlich modellhaft als zwischenmenschliche
    (soziale) und biologische Wirklichkeit beschreiben.

    Aus der vorbestehenden
    menschlichen Sozialwelt tritt der neue Mensch als Folge des
    zwischenmenschlichen Handelns hervor und aufgrund der ausgelösten biologischen
    Vorgänge nicht nur ins eigene Leben, sondern zugleich in eine zwar
    vorbestehende, aber sich ständig verändernde menschliche Lebenswelt ein [6].
    Jeder Mensch ist insofern zugleich ein biologisches und soziales Erzeugnis und
    damit ein Zeugnis, das auf jene Handelnden in der vorausgehenden Sozialwelt
    verweist, als mit der Befruchtung nicht nur elterliche Chromosomen auf die
    Nachkommen übergehen, sondern auch nicht materielle Bestandteile der
    einzigartigen zwischenmenschlichen (sozialen) Welt (Wirklichkeit) seiner Eltern
    als historische Persönlichkeiten, die mit anderen Menschen in Beziehung stehen.
    Schon die noch ungezeugten, aber möglichen Kinder eines heterosexuellen Paares
    sind aufgrund ihres Stammbaumes hinsichtlich ihrer zwischenmenschlichen
    Eigenschaften definiert und werden vollends bei der Befruchtung als nunmehr
    leibhaftige auch noch genetisch-körperlich festgelegt (nicht nur als Sohn oder
    Tochter, sondern auch hinsichtlich aller sonstigen körperlichen Anlagen). Mit
    der Befruchtung sind dann die zwischenmenschlich-immaterielle und die
    genetisch-biologisch-materielle Wirklichkeit in einem neuen leibhaftigen
    Menschen vereint, der in seiner zweifachen Identität als historisches Subjekt
    in die menschliche Lebenswelt eingeordnet wird, an die es noch vor der Geburt
    mit dem beginnenden Hörvermögen akustisch Anschluss gewinnt.

    Vor diesem Hintergrund
    wissenschaftlicher Erkenntnisse gewinnt Immanuel Kants (geb.1724 gest.1804)
    Unterscheidung wieder Bedeutung, der Pflanzen und Tieren als nicht
    vernunftbegabte Lebewesen und lediglich biologische Produkte („Gemächsel“)
    betrachtete, die nur einen „Preis“ hätten, da sie nie Insider der menschlichen
    Lebenswelt werden können, auch wenn sie, fügen wir an, physisch sehr wohl mit
    den Menschen zusammenleben. Demgegenüber bezeichnete Kant die vernunftbegabten
    Menschen als „Weltbürger“, die dem „Reich der Zwecke“ (also der menschlichen
    Lebenswelt?) angehören und denen daher ein „innerer Wert“, d.h. Menschenwürde
    zukommt [13].

    Wie dargelegt, ist die zweifache Wirklichkeit des Menschen
    in zwei komplementären Modellen zu beschreiben. Da diese jedoch
    unterschiedliche Wirklichkeiten in wissenschaftlichen Fachsprachen
    repräsentieren, ergibt sich eine Fragmentierung und Verfälschung des Phänomens,
    verglichen mit dessen Wahrnehmung im Alltag. Dies kann zu einem unangemessenen
    Umgang mit dem Menschen führen.

    Integration beider Wirklichkeiten in ein umfassenderes
    wissenschaftliches Menschenbild

    Vor allem deshalb ist die
    Integration beider Wirklichkeiten in einem umfassenderen Modell des Menschen
    wichtig. Indem man die in wissenschaftlichen Fachsprachen gefassten Modelle in
    die Alltagssprache (als gewissermaßen gemeinsamen Nenner) übersetzt, wird das
    Ineinander- Über- und Auseinander- Hervor- Gehen von Sozialem und Biologischem
    zusammenhängend und im Generationenverlauf beschreibbar (was dann trivial und
    unwissenschaftlich erscheint). Für ein umfassenderes wissenschaftliches Modell
    des Menschen [1], [14] jedoch, das über ein biologisches Fortpflanzungsmodell
    hinausgeht, bedarf es einer Integration beider Wissenschaftsbereiche in die
    Systemtheorie, d.h. eine interdisziplinäre (Meta-) Wissenschaft, die eine für
    die soziale und biologische Dimension des Menschen geltende formale Theorie
    bereitstellen kann [15]. Außerdem sind diese beiden Dimensionen (Wirklichkeiten)
    mit Hilfe der allgemeinen Wissenschaft von den Zeichen, Zeichensystemen (Codes)
    und Zeichenprozessen als Metasprache in ihrem Zusammenwirken zu beschreiben
    [16], [17].

    So gesehen lässt menschliches
    Leben sich modellhaft als theoretisch endloser Zeichenfluss durch
    unterschiedliche Zeichensysteme, d.h. biologische und soziale Wirklichkeiten
    beschreiben, wobei zeichenbedingt immer wieder neue Strukturen, Elemente,
    Systemmodelle und Suprasysteme entstehen [18], [19]. Daraus gehen wieder neue
    Subsysteme hervor, die sich autonom zu einem Systemmodell aufbauen, das sich
    zeichenvermittelt mit einem anderen zu einem neuen Suprasystem ergänzt u.s.w.
    Dabei oszilliert der Zeichenfluss zwischen den Polen leibhaftiges Individuum
    einerseits und heterosexuell- partnerschaftlicher Potentialität andererseits.

    Die jeweiligen biologischen und zwischenmenschlichen
    Strukturen, von denen keine der anderen gleicht, machen in ihrer Summe die
    bisherige Menschheit aus - und mit den von ihr ausgelösten Handlungen die
    gesamte Menschheitsgeschichte.

     

    Anmerkung

    1) Herrn
    Prof. Dr. med. Martin Reincke, Studiendekan "Klinik Humanmedizin" und
    Herrn Prof. Dr. M. Meyer, Studiendekan "Vorklinik-Humanmedizin" der
    Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München gewidmet.

     

    Literatur

    1. Uexküll T, Wesiack W. Theorie der Humanmedizin.
    Grundlagen ärztlichen Denkens und Handelns. 3. völlig
    überarb. Aufl. München, Wien, Baltimore:
    Urban und Schwarzenberg.
    1998:S.468.

    2. Schmid-Tannwald I. The
    Integration of the biological and the social reality of the phenomenon of man
    in a system model. Vortrag gehalten anlässlich STOQ `07-The STOQ International
    Conference on "Ontogeny and Human Life".
    Rom:
    Päpstliche Universität "Athenaeum Regina Apostolorum"; 2007 .

    3. Engel GL. The need for a
    new
    medical model: a challenge for
    biomedicine.
    Science. 1977;196(4286):129-136.

    4. Uexküll J. Umwelt und Innenwelt der Tiere. Berlin:
    Springer; 1909.

    5. Uexküll J. Theoretische Biologie. Berlin: Springer;
    1928.

    6. Schütz A, Luckmann Th. Strukturen der Lebenswelt.
    Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft; 2003.

    7. Piaget
    J, Inhelder B. Die Psychologie des Kindes. München: dtv-Verlag. 1996:S.61ff.

    8. Piaget J. Nachahmung, Spiel und Traum. Die Entwicklung
    der Symbolfunktion beim Kinde. Klett: Stuttgart. 1969:Band 5.

    9. Lenz K. Soziologie der Zweierbeziehung: Eine
    Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV

    Fachverlage; 1998.

    10. Berger PL, Luckmann T. Die gesellschaftliche
    Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/M: Fischer; 2000 (17.Aufl.).

    11. Cassirer E. Versuch über den Menschen. Einführung in
    eine Philosophie der Kultur. Hamburg: Meiner; 2007.

    12. Schütz A. Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine
    Einleitung in die verstehende Soziologie. Frankfurt/M: Suhrkamp; 1981.

    13. Kant I. Metaphysik der Sitten. Frankfurt/M: Suhrkamp;
    1997. Zugänglich unter: http://www.ikp.uni-bonn.de/ Kant/aa06/280.html.

    14. Schmid-Tannwald I, Huber
    J. Towards a more comprehensive scientific model of man. Gatherings in
    Biosemiotics 6.
    Salzburg: Universität Salzburg: 2006. Zugänglich unter:
    http://www.biosemiotics2006.org/content.php?id=74.

    15. Bertalanffy L. General System Theory. New York: Braziller; 1968.

    16. Nöth W. Handbuch der Semiotik. Stuttgart, Weimar: Metzler;
    2000.

    17. Krampen M. Models of
    semiosis.
    In: Posner R, Robering K, Sebeok TA (Hrsg). Handbuch
    Semiotik: Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und
    Kultur.
    Berlin, New York: De
    Gruyter: 1997.

    18. Huber J, Schmid-Tannwald
    I. A
    Biosemiotic Approach to Epigenetics:
    Constructivist Aspects of Oocyte-to-Embryo Transition.
    In:
    Barberie M (Hrsg).
    Introduction to
    Biosemiotics. The New Biological Synthesis.
    Berlin: Springer. 2007:S.457-
    471.

    19. Schmid-Tannwald I, Huber J. Human life: an endless semiosis through different
    human sign-systems. Gatherings in Biosemiotics 6.
    Salzburg:
    Universität Salzburg; 2006. Zugänglich unter:
    http://www.biosemiotics2006.org/content.php?id=74.

     

    Zum Artikel

    Copyright 2008 Schmid-Tannwald.

    GMS Zeitschrift für Medizinische Ausbildung 2008, Vol. 25(1), ISSN 1860-3572, Web: (http://www.egms.de)

    Das Original des Artikels ist im Anhang beigefügt.

     

    Zum Autor

    Prof. Dr. med. Ingolf Schmid-Tannwald ist

    • Professor für Frauenheilkunde und Geburtshilfe an der Ludwig-Maximilians-Universität München,
    • langjähriger Leiter der Familienplanungsstelle der Frauenklinik der Universität München im Klinikum Großhadern
    • und 1. Vorsitzender Ärzte für das Leben e.V.
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  • Ingolf Schmid-Tannwald zum Menschenbild

    21.04.08


     

    Image

    Ingolf Schmid-Tannwald: Der menschliche Alltag - ein unverzichtbarer Bestandteil eines
    wissenschaftlichen Menschenbildes

    "Sobald man sich etwa als
    Arzt, mit Fragen nach der Herkunft einzelner Menschen beschäftigen muss, z.B. im
    Rahmen der Familienplanung, der Beratung in Schwangerschaftskonflikten", sagt Professor Schmid-Tannwald von der Ludwig-Maximilian-Universität München in einem Artikel, in dem er sich mit dem wissenschaftlichen Menschenbild auseinandersetzt, "wird
    die entscheidende Bedeutung des menschlichen Alltags („conditio humana“)
    offensichtlich.

    Schmid-Tannwald unterstreicht, dass jeder Mensch zugleich ein biologisches und soziales
    Erzeugnis und damit ein Zeugnis sei, das auf jene Handelnden in der vorausgehenden
    Sozialwelt verweist. Mit der Befruchtung gingen nicht nur elterliche Chromosomen
    auf die Nachkommen über, sondern auch nicht materielle Bestandteile der
    einzigartigen zwischenmenschlichen (sozialen) Welt (Wirklichkeit) seiner Eltern
    als historische Persönlichkeiten, die mit anderen Menschen in Beziehung stünden
    . Mit der Befruchtung seien dann die zwischenmenschlich- immaterielle und
    die genetisch-biologisch-materielle Wirklichkeit in einem neuen leibhaftigen
    Menschen vereint.

    Professor Schmid-Tannwald hält deshalb die Integration beider Wirklichkeiten in einem
    umfassenderen Modell des Menschen wichtig,
    das über ein biologisches Fortpflanzungsmodell hinaus geht. Was den Menschen als Individuum und die Menschheit in ihrer Gesamtheit ausmache, seien die jeweiligen biologischen und die zwischenmenschlichen
    Strukturen, von denen keine der anderen gleiche, und mit den von ihr ausgelösten Handlungen die
    gesamte Menschheitsgeschichte.

    Den Artikel von Professor Schmid-Tannwald finden Sie mit besonderem Dank im Namen der Leser an den Autor und Herrn Prof. Dr. Hahn, Erlangen, Vorsitzender der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA) für die Genehmigung der Wiedergabe des Artikels aus der Zeitschrift der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung" in der Rubrik --> Forum.


  • Psyche, Geist und Seele in der Medizin


    ImagePsyche, Geist und Seele in der Medizin - Versuch einer wissenschaftlichen Begriffsklärung


    13. Kooperationsseminar der Ärzte für das Leben e.V. mit der Hanns-Seidel-Stiftung

     

    Referenten

    • Prof. Dr. Ulrich Lüke,

    Geschäftsführender Direktor des Instituts für Katholische Theologie an der
    Rheinisch-Westfälischen Technischen Universität
    Eilfschornsteinstraße 7, 52062 Aachen

    • Prof. em. Dr. Reinhold Ortner

    Lehrstuhl für Grundschulpädagogik, Universität Bamberg
    Birkenstraße 5, 96117 Memmelsdorf

    • Dr. med. Dr. theol. h.c. Maria Overdick-Gulden

    54293 Trier, Markusberg 24 e

    • Prof. Dr. med. Ingolf Schmid-Tannwald
      Klinikum der Universität München
      Pettenkoferstraße 8a
      80336 München

    Anmeldung:

    Nur für die gesamte Seminardauer möglich!


    Bitte direkt und schriftlich bei:
    Prof. Ingolf Schmid-Tannwald
    Pettenkoferstraße 8a, 80336 München, Telefon: 089/5160-7488
    über e-mail

     

    Anfahrt

    Kloster Banz liegt unweit von Bamberg und ist über den Frankenschnellweg (Ausfahrt Staffelstein-Ost oder Lichtenfels) gut erreichbar. Der nächste IC-Bahnhof liegt 7 km entfernt in Lichtenfels an der IC-Strecke Nürnberg-Leipzig.


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  • Diskussion um Spätabtreibungen und Abtreibungspraxis

    22.04.08



    Diskussion um Spätabtreibungen und Abtreibungspraxis -
    Einigung bei der strittigen Frage von Spätabtreibungen in Sicht?

    Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU Volker Kauder hat vor dem Hintergrund seines Treffens
    mit dem Präsidenten der Bundesärztekammer am Donnerstag geäußert, er sehe eine Chance zu einer Einigung mit der SPD in der Frage der Spätabtreibungen. Spätabreibungen sind seit längerer Zeit Gegenstand der ganz besondere Sorge unterschiedlicher Stellen.

    So hat die Bundesärztekammer Anfang März eine rasche Änderung der Regelungen zur Spätabtreibung gefordert. Wie das Bundesärzteblatt mitteilte erklärte Präsident Jörg-Dietrich Hoppe dazu, "die Politik wisse um die Probleme, die mit der Neufassung des Abtreibungsrechts 1995 entstanden seien. Sie sei aber offenbar bislang zu feige, diese zu lösen. Dabei gehe es nicht um eine neue Generaldebatte über den Paragrafen 218a StGB, sondern nur um eine Ergänzung."

    Auch der Diözesanrat der Katholiken der Erzdiözese München und Freising hat kürzlich in einer Erklärung zur Abtreibungsmentalität und -praxis massive Kritik geäußert und darin auch auf Spätabreibungen als Skandal hingewiesen. In seiner Erklärung vom 31.03.08 stellt er u.a. fest, dass sich im öffentlichen Bewusstsein ein gravierender Wandel vollzogen habe. Entgegen dem geltenden Recht und entgegen dem ärztlichen Ethos werde die Abtreibung heute von vielen in rechtlicher Hinsicht als legal und erlaubt, in medizinischer Hinsicht als normaler Eingriff und als Standardangebot des Gesundheitswesens beurteilt, so der Diözesanrat. "Innerhalb kurzer Zeit drohen elementare Wertüberzeugungen in unserer Gesellschaft wegzubrechen.", heißt es weiter. Aus dieser Position heraus verweist der Diözesanrat darauf, dass das Bundesverfassungsgericht dem deutschen Bundestag im Blick auf die Abtreibungsgesetzgebung eine Beobachtungspflicht auferlegt habe und stellt fest: "Der deutsche Gesetzgeber ist dieser Pflicht, die Wirkungen des Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes zu beobachten und zu überprüfen, nicht einmal in Ansätzen nachgekommen. Wir fordern den deutschen Bundestag auf, das Versäumte nachzuholen und dabei den Blick auch auf den Skandal der Spätabtreibungen zu richten."

    Mit seiner generellen Kritik weist der Diözesanrat auf das sogenannte zweite Abtreibungsurteil des Bundesverfassungsgerichtes hin, das vor 15 Jahren am 28. Mai 1993 verkündet wurde. In diesem Urteil hatte das Gericht dem Gesetzgeber auferlegt zu beobachten, ob das Konzept, einen Schwangerschaftsabbruch in den ersten 12 Wochen straffrei zu stellen, falls nachweisbar eine Beratung stattgefunden habe, einen hinreichenden Schutz für das ungeborene Leben gewährleiste.

    Zu Frage der beobachteten Auswirkungen auf die Abtreibungspraxis hatte es im Jahr 2004 eine Kleine Anfrage im Bundestag gegeben, die mit Drucksache 15/3155 15. Wahlperiode vom 18. 05. 2004 von der Bundesregierung behandelt wurde. Aus den darin bekannt gegebenen Zahlen geht u.a. hervor, dass die Zahl der in der Statistik erfassten Schwangerschaftsabbrüche in den Jahren 1996-2003 bei durchschnittlich ca. 130.000 Abbrüchen pro Jahr bzw. bei ca. 76 Abbrüche pro 10.000 Frauen lagen. Auffällig war ein Anstieg der Abbrüche in der Altersgruppe der jungen Frauen im Alter von 15-18 Jahren von 33 Abbrüchen auf über 50 Abbrüche pro 10.000 Frauen jährlich.

    Zur besonders schwierigen Frage von Spätabtreibungen, bei denen es meist um Schwangerschaftsabbruch wegen Behinderungen geht, fand noch im Jahr 2004 am 14. November eine Aussprache im Bundestag statt, bei der die Zahl von Spätabtreibungen für das Jahr 2003 auf 337 Fälle beziffert wurde (Abbrüche bei Kindern, die medizinisch als lebensfähig gelten, in der Debatte genannt "Abbrüche nach der 22. Schwangerschaftswoche," zwischen der 13. und 23. Woche 217 Abbrüche). Ein Entschließungsantrag der Unionsparteien zur Vermeidung von
    Spätabtreibungen hatte keinen Erfolg. Die damalige Koalition (SPD und Bündnis90/Die Grünen) hatte keinen Handlungsbedarf für Gesetzesänderungen gesehen. Im März 2005 befasste sich der Bundestag erneut mit Vorschlägen zum Thema Spätabtreibungen, die am 10.03.2005 in die Ausschussberatung gegeben wurden.

    Bisher gab es keinen Konsens bei Union und SPD. Sie haben jedoch im Koalitionsvertrag vereinbart, dass sie die geltenden Regelungen
    überdenken wollen. Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU will nun auf die SPD mit einem neuen Vorschlag zugehen. Demnach könnte künftig eine Pflicht-Beratung durch einen Arzt vorgeschrieben
    werden, die es bisher nur für Schwangerschaftsabbrüche bis zur
    zwölften Woche gibt. SPD, FDP und Grüne plädierten dagegen bisher mehrheitlich für freiwillige Angebote.

    Die Frage der Abtreibung hatte zuletzt auch europaweit eine aktuelle politische Bedeutung gewonnen, als im Europarat eine Resolution zur Schaffung eines "Rechtes auf Abtreibung" mehrheitlich gegen die Stimmen der EVP verabschiedet wurde. Gegen diese Resolution hatten zahlreiche Lebensschutzorganisationen und kirchliche Stellen ihre ablehnende Haltung ausgesprochen. Die im Bundestag vertretenen Parteien hatten dazu keine einheitliche Linie vertreten. Es bleibt jetzt abzuwarten, ob sich Union und SPD in der Frage der Spätabtreibungen auf eine gemeinsame Linie verständigen können und wo der gemeinsame Nenner liegen wird.


    Gedicht --> Das ungebor'ne Leben

     

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