08.07.12
Vier prominente Verfassungsbeschwerden wegen ESM-Vertrag und Fiskalpakt
Bundespräsident Gauck zeigt nach Studium der Klagen Verständnis für die Sorgen der Kläger, die schwerwiegende Verletzungen des Grundgesetzes beanstanden
(MEDRUM) Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe muss sich im Eilverfahren mit mehreren Verfassungsbeschwerden befassen, die gegen die Zustimmungsgesetze zum ESM-Vertrag und Fiskalpakt der Bundesrepublik Deutschland mit den Staaten der Eurozone eingereicht wurden.
Der Deutsche Bundestag verabschiedete am 29.06.12 mit einer Zweidrittelmehrheit mehrere Gesetzentwürfe zum Abschluss des Fiskalpaktes und zur Einrichtung eines Europäischen Stabiliätsmechanismus (ESM) in der Eurozone. Der ESM-Vertrag sollte bereits am 1. Juli 2012 in Kraft treten. Deshalb wurde die Zustimmung des Bundesrates noch bei einer Sitzung am selben Tage eingeholt. Die dazu beschlossenen Gesetze, die der ehemalige Präsident des BDI als "skandalöse finanzielle Ermächtigungsgesetze" bezeichnete, sind nun Gegenstand von Verfassungsbeschwerden vier prominenter Beschwerdeführer, die im Eilverfahren das Bundesverfassungsgericht angerufen haben. Die Beschwerden zielen darauf ab, das Inkrafttreten der Gesetze und die Ratifizierung der Verträge zu verhindern. Die Beschwerdeführer halten die beschlossenen Gesetze für unvereinbar mit dem Grundgesetz. Vor seiner Entscheidung will das Verfassungsgericht am 10. Juli 2012 mündlich über die Beschwerden verhandeln. Die Beschwerdeführer sind:
- der Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler (CSU),
- die Partei DIE LINKE,
- der Verein "Mehr Demokratie e.V.",
- der Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider, Ordinarius em. des Öffentlichen Rechts der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Rechte der Volksvertreter eingeschränkt und Demokratieprinzip verletzt
Der Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler sieht durch einen Beitritt zum ESM-Vertrag auf der Grundlage der derzeit vom Bundestag verabschiedeten Gesetze seine Grundrechte als Vertreter des Volkes aus Art. 38 Abs. 1 und 2 GG verletzt. In Art. 38 heißt es:
(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
(2) Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.
Gauweiler stellt dazu fest, dass der in den Bundestag eingebrachte Regierungsentwurf des Gesetzes zum ESM-Vertrag keine Beteiligungsrechte des Bundestages vorgesehen habe. Auch ein erster Entwurf, der von den Arbeitsgruppen Haushalt CDU/CSU und FDP als Änderungsantrag in den Haushaltsausschuss eingebracht worden sei, habe sehr unzureichende Parlamentsvorbehalte vorgesehen, darunter zu wenige Plenarvorbehalte, während zu viele Kompetenzen an den Haushaltsausschuss delegiert worden seien. Erst nachdem er in seiner Eigenschaft als Bundestagsabgeordneter durch ein Rundschreiben an die Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion auf die Mängel hingewiesen habe, sei es zu wesentlichen Nachbesserungen gekommen. Dennoch verletzen die im Bundestag verbesserten Gesetzestexte aus Sicht von Gauweiler dauerhaft die Haushaltsautonomie des Bundestages. Dies führe für die wahlberechtigten Bürger zu einem Substanzverlust ihrer im verfassungsstaatlichen Gefüge verankerten Herrschaftsgewalt, wovor Art. 38 Abs. 1 und 2 GG schütze, so Gauweiler.
Der Bundestagsabgeordnete argumentiert weiter, dass die mit den Gesetzentwürfen eingebrachten Änderungen des EU-Vertrages das Demokratieprinzip verletzten, weil die faktische Aufhebung des Bail-out-Verbotes seine demokratiesichernde Funktion aufhebe, denn dadurch blieben die Bedingungen einer freien Verfügung des Parlaments über den nationalen Haushalt nicht erhalten. Deutschland beteilige sich mit dem Zustimmungsgesetz zum ESM-Vertrag an einem europäischen Projekt, das die Demokratie in den meisten der beteiligten Staaten auf schwerwiegende Weise verletze. Gauweiler zeigt darüber hinaus auf, dass die Rechte des Parlamentes nur durch Parlamentsvorbehalte gewahrt werden könnten, die aber fehlten. Schließlich stellt Gauweiler fest, dass die Möglichkeit, aus dem ESM-Vertrag auszusteigen, fehle. Die Bundesrepublik Deutschland binde sich "auf Gedeih und Verderb" an die europäische Währungsunion, was mit dem Grundsatz der souveränen Staatlichkeit, wie ihn das Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen zu den Verträgen von Maastricht und dem Lissabon-Urteil entwickelt habe, unvereinbar sei. Gauweiler hat daher die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes beantragt, dass die vom Bundestag verabschiedeten Gesetze seine Grundrechte aus Art. 38 Abs. 1 und 2 GG und Art. 3 Abs. 1 GG verletzen.
Verstoß gegen Prinzip der repräsentativen Demokratie und der Budgethoheit als spezifischem Parlamentsrecht
Zu ähnlichen Einschätzungen kommt die Partei DIE LINKE. Nach Auffassung der Linkspartei verletzen die Zustimmungsgesetze zum sog. Fiskalpakt, zum Beschluss des Europäischen Rates über die Änderung von Art. 136 AEUV und zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) sowie das ESM-Finanzierungsgesetz (ESMFinG) ihre Rechte als Wählerinnen und Wähler aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG oder als Fraktion aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, weil sie "gegen die im Prinzip der repräsentativen Demokratie (Art. 79 Abs. 3 in Verb. mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) wurzelnde dauerhafte Haushaltsautonomie (Budgetrecht) des Deutschen Bundestages und die Struktursicherungsklausel in Verbindung mit dem Informationsrecht des Parlaments in europäischen Angelegenheiten (Art. 23 Abs. 1 und 2 GG)" verstoßen. Zu ihren Anträgen, dem Bundespräsidenten eine Unterzeichnung der vom Bundestag beschlossenen Gesetze zu untersagen, sagt DIE LINKE: "Damit richten sich die Anträge gegen deutsche und europäische Rechtsakte, die im Zusammenhang mit Versuchen zur Bewältigung der gegenwärtigen Finanz- und Staatsschuldenkrise im Raum der Europäischen Währungsunion stehen."
DIE LINKE macht in ihrer Beschwerde neben der Verletzung der Hauhaltsautonomie geltend, dass die vom Bundestag beschlossenen Gesetze gegen die Begrenzung "exekutivischer Kompetenzübertragungen als essenzielles Element des Demokratieprinzips und der parlamentarischen Verantwortung" verstoßen. Die Linkspartei verweist ferner darauf, dass die Budgethoheit nicht nur ein allgemeines, sondern auch ein spezifisches Parlamentsrecht betreffe, das "von den Parlamenten und dem Volk erkämpft" worden sei und zu den ursprünglichen Funktionen und Aufgaben des Parlaments gehöre. Deshalb sei mit der Beschneidung der Budgetverantwortung nicht nur das Demokratieprinzip im Allgemeinen, sondern ein spezifisches Recht des Parlaments betroffen, so dass ein Organstreitverfahren eröffnet sei. Das könnte die Bundestagsfraktion DIE LINKE als Teil des Organs Deutscher Bundestag in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzen, heißt es in ihrer Beschwerde.
Krise der Demokratie und Entmachtung der Parlamente
Die Initiative "Mehr Demokratie e.V.", der sich mehr als 12.000 Bürger - darunter auch die Freien Wähler - angeschlossen haben, vertreten durch die ehemalige Bundesjustizministerin Herta Däuber-Gmelin und den Leipziger Staatsrechtler Christoph Degenhart, beanstandet: "Die Euro- & Staatsschuldenkrise droht zu einer Krise der Demokratie zu werden. Parlamente werden zunehmend entmachtet, immer mehr Kompetenzen & Entscheidungen auf die höhere Ebene verlagert. Wir fordern, dass die Bevölkerung in bundesweiten Volksentscheiden über ESM- und Fiskalvertrag abstimmen kann sowie einen Konvent zur Zukunft der EU." Die Beschwerdeführer sehen sich in ihren demokratischen Rechten verletzt (Art. 38 Abs. 1 GG) und stellen in der Verfassungsbeschwerde weiter fest: "Die Beschwerdeführer wenden sich insbesondere auch dagegen, dass die damit einhergehenden tief greifenden Strukturveränderungen im staatsorganisatorischen Gefüge ohne Beteiligung der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes beschlossen worden sind."
Eigenstaatlichkeit und Souveränität Deutschlands weitgehend beendet
Karl Albrecht Schachtschneider hat in der von ihm eingereichten Verfassungsbeschwerde beantragt, dem Bundespräsidenten durch einstweilige Anordnung zu untersagen,
- das Zustimmungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland zur Vertragsergänzung des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union vom 13. Dezember 2007,
- das Zustimmungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland zu dem Vertrag vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM,
- das Gesetz zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus, sowie
- das Zustimmungsgesetz zu dem Vertrag vom 2. März 2012 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (Fiskalvertrag)
auszufertigen und zu verkünden. Zugleich hat Schachtschneider beantragt, der Bundesregierung zu untersagen,
- die Vertragsergänzung des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union vom 13. Dezember 2007 durch Art. 136 Abs. 3 AEUV und
- die Verträge erstens vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM und zweitens vom 2. März 2012 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (Fiskalvertrag)
durch Unterzeichnung der Ratifikationsurkunde und Hinterlegung der Ratifikationsurkunde zu ratifizieren, bevor über die Verfassungsbeschwerde entschieden ist.
In der Begründung seiner Verfassungsbeschwerde trägt Schachtschneider unter anderem vor, dass mit den von Bundestag und Bundesrat bechlossenen Gesetzen die "Eigenstaatlichkeit Deutschlands und dessen Souveränität weitgehend beendet" werde: "Deutschland wird ein Gliedstaat im Eurobundesstaat. Das ist eine weitgehende und tiefgreifende Änderung des Grundgesetzes." Weiter beanstandet Schachtschneider, dass Deutschland zeitlich unbegrenzt die Mithaftung für die Schulden fremder Staaten übernehme und sich in eine Schuldenunion einfüge. Dies sei mit dem Stabilitätsprinzip, das im Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes verankert sei, unvereinbar. Die Finanz- und Haushaltshoheit Deutschlands, von Bund und Ländern, werde dauerhaft eingeschränkt, so Schachtschneider. Der Universitätsprofessor Schachtschneider ist einer von fünf Beschwerdeführern, zu denen neben ihm - als Verfahrensbevollmächtigtem - auch Dr. phil. Bruno Bandulet (Bad Kissingen), Prof. Dr. rer. pol. Wilhelm Hankel (Königswinter), Prof. Dr. rer. pol. Wilhelm Nölling (Grönwohld) und Prof. Dr. rer. pol. Dr. h.c. Joachim Starbatty (Tübingen) gehören.
Bundespräsident Gauck schwächt ehemalige Distanz zu Verfassungbeschwerden ab
Bundespräsident Joachim Gauck hatte sich bei seinem Antrittsbesuch bei der EU in Brüssel im April 2012 skeptisch über mögliche Verfassungsbeschwerden geäußert. Er räumte ihnen keine Erfolgsaussichten ein. "Gauck erwartet Ja aus Karlsruhe zum Rettungsschirm", titelte die Süddeutsche Zeitung. Die Zeitung Die Welt fragte: "Woher weiß Gauck, wie Karlsruhe entscheidet?".
Mittlerweile hat Gauck die damaligen Äußerungen abgeschwächt. Im Sommerinterview mit dem ZDF am Sonntag sagte er nunmehr, er habe sich intensiv mit den Klagen auseinandergesetzt und er sei froh, dass dieser Weg beschritten werde. Gauck: „Die Kläger haben alles Recht, ihre Sorgen zum Ausdruck zu bringen.“
____________________________________
Weitere Information:
Verfassungsbeschwerde Europa braucht mehr Demokratie