Sie sind hier

Deutschland hat ein Elitenproblem


17.02.12

Deutschland hat ein Elitenproblem

Elite muss man wollen

von Alexander Kissler

(MEDRUM) Der Fall des Bundespräsidenten zeigt auf dramatische Weise: Deutschland hat ein Elitenproblem. Welche Lehren sind aus dem Scheitern des Mannes, der Lügner genannt werden darf, zu ziehen? Was wird ins Skurrile, Komische, subjektiv Peinliche absinken, und aus welchen Steinen wird der Rucksack gemacht sein, der dem deutschen Michel hernach auf den Schultern lasten wird - zentnerschwer, sodass des Michels Blick fest zum Boden gerichtet sein wird, zur Grasnarbe, ganz tief nach unten?

Von den Kollateralschäden für jene Unterstützerparteien, die sich bürgerlich nennen und die in der ganzen Causa sehr unbürgerlich sprachen und flunkerten, war schon die Rede. Alle aber, die Teil sind dieses Gemeinwesens, werden nach dem Abgang des Mannes, der Lügner genannt werden darf, sich fragen müssen: Wie entsteht eigentlich diese dünne Schicht, die zwei verfemte Begriffe zusammenbindet, die deutsche Elite? Ob es uns gefällt oder nicht - eine solche Elite gibt es, wird es immer geben, immer brauchen. Verfügt die Bundesrepublik aber über die richtigen Techniken und Strategien, damit nach oben gelangt, wer nach oben gehört? Nach Lage der momentanen Dinge: Nein.

Der Fall des Mannes, der Lügner genannt werden darf, zeigt auf dramatische Weise: Deutschland hat eine Elite, aber kein Elitenrekrutierungsprogramm. Deutschland hat eine Elite, aber kein Elitenbewusstsein. Deutschland hat ein Elitenproblem. Unumstritten sind höchstens der Geld- und der Sportadel. Wer deutlich mehr verdient als andere oder deutlich sportlicher ist, hat Anspruch auf allgemeines Interesse. Dessen Wort wird vernommen, wenn auch nicht befolgt. Die sogenannte Funktionselite hingegen, zuvörderst die politische, hat ein enormes Legitimationsdefizit. Die Regel scheint es zu sein, dass die Angepassten und die Vernetzten nach oben gelangen, nicht die Besten. Auch der gescheiterte Bundespräsident galt als Meister der Kungelei, und allein einer Kungelrunde im Bundeskanzleramt verdankte er sein jetziges Amt.

Ein solches Modell taugt nicht. Es vertreibt systematisch alle Exzellenz und lässt jene Mittelmäßigkeit mit Ellenbogen zurück, wie sie auf Schloss Bellevue residierte. „Nicht die unabhängigen Köpfe", sagte jüngst Arnulf Baring, „setzen sich durch, sondern die Apparatschiks. (...) In Frankreich, Großbritannien und den USA (...) geht man ganz anders vor. In den Vereinigten Staaten gelangen häufig Wirtschaftsführer in die Politik. In Frankreich greifen alle Lager auf die Absolventen der Eliteschulen zurück. Und wenn man in Oxford oder Cambridge studiert und jeden Tag die Porträts der Premierminister, die aus dem jeweiligen College hervorgegangen sind, an den Wänden der Hall sieht, fühlt man sich automatisch ermutigt, es eines Tages selbst zu versuchen."

Hand aufs Herz: Welchen klugen Kopf könnte die Malaise zu Bellevue anspornen, dereinst selbst nach diesem Amt sich ausstrecken zu wollen? Wer mag nach einer Würde greifen, die man auch würdelos handhaben kann? Wen lockt die Aussicht auf Hinterzimmergemauschele und Strippenzieherei, deren Resultat dann ein angeblich unabhängiger Kopf für angeblich alle sein soll? Wer könnte ernstlich glauben, die Summe so vielfacher Bedingtheit sei ein unbedingter Souverän?

Weil mit alldem nicht zu rechnen ist, sollte die Republik nach dem Abgang des Mannes, der Lügner genannt werden darf und der darum objektiv ungeeignet ist für Bellevue, zweierlei tun: Sie sollte die Scheu vor der Elite ablegen, damit künftig nicht Elitendarstellung triumphiert, wo Elite sein sollte. Und sie sollte den öffentlichen Streit und die öffentliche Wahl an Stelle der Kungelrunden setzen. Wer das Volk vertreten will, sollte es ertragen, von ihm gewählt werden zu müssen.

___________________________________

Copyright 2012, Alexander Kissler

Erschienen in The European, "Elite muss man wollen" (Erstfassung vom 14.02.2012)

ImageAlexander Kissler

Dr. phil. Alexander Kissler ist Autor des 2011 über Johannes Paul II. erschienenen Buches: „Der Jahrhundertpapst – Seliger Johannes Paul II.

Kissler ist Historiker, Literaturwissenschaftler, Vortragskünstler und Schriftsteller. Er schrieb im Feuilleton von FAZ, Süddeutscher Zeitung und Cicero. Derzeit ist er Kulturredakteur beim Focus. Seine pointierten Kommentare sind häufig auf Radio- und Fernsehkanälen gefragt. Er schreibt auch als Kolumnist im Internet-Magazin „The European“ (Kisslers Kontrastmittel).  Seine Bücher wie „Der aufgeklärte Gott“ oder „Der Deutsche Papst – Benedikt XVI. und seine schwierige Heimat“ haben Maßstäbe gesetzt.

Mehr über Alexander Kissler: www.alexander-kissler.de


17.02.12 MEDRUM Bettina und Christian Wulff fühlen sich durch Medien verletzt
17.02.12 MEDRUM Staatsanwaltschaft beantragt Aufhebung der Immunität von Christian Wulff
22.01.12 MEDRUM Dramatischer Ansehensverlust für Christian Wulff
20.01.12 MEDRUM Engster Vertrauter von Christian Wulff unter Korruptionsverdacht
18.01.12 MEDRUM Viele Fragen, wenig oder gar keine Antworten
15.01.12 MEDRUM Christian Wulff unter erdrückendem Korruptionsverdacht
12.01.12 MEDRUM Transparency International erteilt Wulff Absage
05.01.12 MEDRUM Wulffs Befreiungsversuch missglückt
21.12.11 MEDRUM Christian Wulff: Vorbildfunktion und Verantwortung - ohne Wenn und Aber
Wulff-Affäre

Leserbriefe

Deutschland hat kein Eliteproblem!! Deutschland hat das Problem des politischen Geistes. Dieser Geist bringt die Politiker dazu, sich in allgemeinen Floskeln möglichst unbestimmt zu äußern. Sie wollen die Macht und sie wollen das Geld, sie werden schnell zu rücksichtslosen Systemausbeutern und leben nur für sich selber. Das Privatleben wird abgeschottet, wenn man schlau ist, wie Trittin und Merkel. Einzig Guttenberg war relativ frei vom politischen Geist, dass machte ihn äußerst anziehend für das Volk, allein er war unmoralisch, wie auch Wulff. Wir brauchen Menschen, die Christus nachfolgen und gläubig und wiedergeboren sind. Das ist das wichtigste Elitekriterium. Damit ergibt sich eine hohe Wahrscheinlichkeit für moralisches, "gutes" Handeln, für eine hohe Autentizität. Danach sehen sich die Menschen.

Jürgen Heinrich, Kinder-Zahnarzt, christlicher Seelsorger, Eheberater, Kindererziehungsberater

Was wir brauchen ist eine Elite, die unser Volk wieder zusammenschweisst. Nicht wie es seit Jahrzehnten getan wird, es zermürbt und den Michel diskriminiert. Aber es fehlt der politischen Kaste schlichtweg der Mut dazu und bei den sogenannten christlichen Nachfolgeparteien sehe ich diesen bösartigen Zeitgeist immer noch enthalten. Wo also soll dieser 'Wiedergeborene' herkommen, frage ich mich, wenn selbst die Kirche dem Zeitgeist so nacheifert. Wo bleiben die Werte und welche Werte sind es überhaupt, die diese politische Kaste nicht wahr haben möchte?

"Wir brauchen Menschen, die Christus nachfolgen und gläubig und wiedergeboren sind. Das ist das wichtigste Elitekriterium. Damit ergibt sich eine hohe Wahrscheinlichkeit für moralisches, "gutes" Handeln, für eine hohe Autentizität."

Bei allem Respekt: Was Sie hier schreiben, ist reine Schwärmerei! Glaube als Voraussetzung für's Amt? Jesus und Paulus fordern so etwas nicht. Die "Elite" - ein Unwort! - soll, besser, die Regierenden sollen vernünftig sein und weise. Lesen Sie mal bei Luther nach, wie klar er davon geschrieben hat, dass der "Landesherr" gut regieren soll, d.h. er soll imstande sein, die Lage der Menschen zu beurteilen und angemessen zu handeln; für beides muss man kann Christ sein. Und über das Phänomen, dass Nicht-Christen anständig leben und handeln können, haben sich Theologen der letzten zwei Jahrtausende den Kopf zerbrochen...

Junge Menschen, mit denen ich Tag für Tag zu tun habe, wünschen sich bestimmt keine "moralisch" integere Elite, aber die Sehnsucht nach Menschen mit Fehlern, die diese offen, ehrlich und ohne Taktiererei zuzugeben bereit sind, das ist gefragt. Ich habe sogenannte Elite kennen lernen müssen, evangelikale Elite und landeskirchliche Elite. Eine "hohe Wahrscheinlichkeit für moralisches [...] Handeln" konnte ich dort nicht feststellen. Ich musste bei der "causa Guttenberg" und der "causa Wulff" usw. immer mal wieder an meine Mitchristen der evangelikalen Elite denken. Warum wohl? Weil es dort moralisch nicht besser zugeht! Gut, die Fassade sieht schöner aus. Gefakte Dissertationen? Kein Problem. Ist mir untergekommen. Ehebruch? Passiert hier wie dort. Kein Einzelfall. Gier nach Macht? Menschlich. Stichwort: Ätmerhäufung. Auf das Namensschild "Christ" kann und will ich verzichten. Denn wo Christ drauf steht, ist letztlich ein Mensch drin. Sie überschätzen die "Bekehrung" oder was auch immer sie unter Wiedergeburt verstehen wollen. Lieber ein Kanzler, eine Ministerin, ein Abgeordneter mit Herz und Hirn, mit Verstand und Bezug zu den Menschen als einer von den Frommen, die mir begegnet sind. Denn der Glaube ist gewiss keine Eigenschaft für's Regieren. Ein klarer Kopf und ehrliche Lippen sind es schon. Und DANACH sehnen sich nicht nur junge Menschen.