21.02.11
Gesellschaftsbild für die Gleichstellungspolitik
(MEDRUM) Anfang 2011 gab die Bundesregierung den ersten Gleichstellungsbericht heraus. Wesentliches Ziel war es, politischen Handlungsbedarf für eine "innovative Gleichstellungspolitik für Frauen und Männer" zu identifizieren.
Die Sachverständigenkommission der Bundesregierung hat für den ersten Gleichstellungsbericht geprüft, ob und welche Maßnahmen auf sogenannten Zukunftsfeldern zu ergreifen sind. Dabei hat sie sich an einem Leitbild für die Gesellschaft orientiert, über das die Sachverständigenkommission in ihrem Gutachten zum Gleichstellungsbericht sagt:
„Wir streben eine Gesellschaft mit Wahlmöglichkeiten an. Die Beschäftigungsfähigkeit von Männern und Frauen wird durch eine gute Ausbildung gesichert. Sie werden befähigt, für ihren Lebensunterhalt selbst zu sorgen und auch eine eigene soziale Sicherung aufzubauen. Die beruflichen Qualifikationen und Kompetenzen von Frauen und Männern werden gleichermaßen geschätzt und entgolten.
Durch eine angemessene Infrastruktur für Kinderbetreuung, schulische Erziehung und Pflege sowie flexible Arbeitszeiten in den Unternehmen wird die Vereinbarkeit für Beruf und Familie gewährleistet. Die Erwerbsverläufe werden durch Optionen auf eine Unterbrechung der Erwerbstätigkeit oder eine vorübergehende und reversible Verkürzung der Arbeitszeit flexibilisiert.
Die Gesellschaft unterstützt die Wahrnehmung dieser Optionen zur Kindererziehung und -betreuung, Pflege und Weiterbildung. Es werden besondere Anreize gesetzt, damit die Optionen in den gesellschaftlich gewünschten Feldern sowohl von Frauen als auch von Männern genutzt werden. Die Nutzung dieser Optionen darf nicht zu Nachteilen in der Alterssicherung führen."
Auffällig ist: Dieses Gesellschaftsbild beruht auf der grundsätzlichen Bedingung, daß Kinder außerfamiliär betreut werden. Ihre Erziehung und Betreuung innerhalb der Familie tauchen - auch als alternative Wahlmöglicheit - ebenso wenig auf wie die Begriffe Kinderfreundlichkeit, Familienfreundlichkeit oder "Ehe und Familie", welche vom Grundgesetz unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung gestellt sind.
Die Sachverständigenkommission legt also ein Gesellschaftsbild zugrunde, das von der leitenden Vorstellung des Grundgesetzes, Ehe und Familie besonders zu schützen und zu fördern, abweicht. Dazu wird im Gutachten zum Gleichstellungsbericht gesagt, die "Funktionsbedingung dieses Leitbildes, dass die Haus- und Sorgearbeit übernehmende Frau auch nach der Scheidung der Ehe auf finanzielle Versorgung zählen könne, "in der Realität und auch im geltenden Recht" keine Entsprechung mehr finde. Es kann hinterfragt werden, ob die hier genannte Funktionsbedingung die einzig denkbare Funktionsbedingung ist. Denn was über die Rolle der Frau gesagt wird, müsste ebenso und prinzipiell auch für den Mann gesagt werden. Es gilt wechselsweitig. Der Mann ist nicht besser als die Frau gestellt, falls er die häusliche Sorge- und Erziehungsarbeit für den Aufwuchs von Kindern in der Familie übernimmt. Unabhängig davon bestätigt die Kommission aber mit dieser Feststellung, daß die Politik ihrer grundgesetzlich verankerten Aufgabe, das Leben in Ehe und Familie als Leitbild für Lebensformen in der Gesellschaft zugrunde zu legen, nicht gerecht geworden ist. Diese Schlußfolgerung wird durch eine weitere Feststellung des Gutachtens zum Gleichstellungsbericht bestätigt. Denn die Kommission kommt zu dem Ergebnis, daß es der Gleichstellungspolitik in Deutschland trotz erheblicher Fortschritte in den letzten Jahren an einem gemeinsamen Leitbild mangele. Der Mangel an Konsistenz führe dazu, dass gleichzeitig Anreize für ganz unterschiedliche Lebensmodelle gesetzt würden, so das Gutachten. Eine Präferenz für Ehe und Familie gibt es demzufolge nicht.
Was den Gutachtern selbst vorschwebt, ist an ihrem Leitbild für die Gesellschaft ausgerichtet. Nach ihrer Vorstellung soll es in der Gleichstellungspolitik vorrangig um die Unterstützung neuer Lebensentwürfe von Frauen und Männern gehen. Darunter versteht die Kommission:
- die Nutzung "aller Talente unserer Gesellschaft", damit Unternehmen leistungsfähiger und fexibler werden;
- die Erwerbstätigkeit von Frauen, die nicht nur zu "zusätzlicher wirtschaftlicher Nachfrage" führen, sondern auch neue Beschäftigungsverhältnisse schaffen soll;
- daß Frauen zudem vollwertige Beitragszahler werden und nicht nur abgeleitete Ansprüche nutzen, um die Sozialsysteme zu stabilisieren.
Die Kommission vertritt die Auffassung, daß die Kosten der gegenwärtigen "Nicht-Gleichstellung" die Kosten einer "zukunftsweisenden Gleichstellungspolitik bei weitem übersteigen" würden. Zu den Kosten der Gleichstellungspolitik werden im Gutachten insbesondere die Kosten des Ausbaus für Kinderbetreuung gezählt. Die Gutachter empfehlen, diesen Ausbau rasch voranzutreiben.
Zur Sachverständigenkommission, die von der ehemaligen Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend eingesetzt wurde, gehören:
- Prof. Dr. Ute Klammer (Vorsitz), Universität Duisburg-Essen
- Prof. Dr. Gerhard Bosch (ab Februar 2010), Universität Duisburg-Essen
- Prof. Dr. Cornelia Helfferich, Evangelische Hochschule Freiburg
- Prof. Dr. Tobias Helms (bis November 2010), Philipps-Universität Marburg
- Prof. Dr. Uta Meier-Gräwe, Justus-Liebig-Universität Gießen
- Prof. Dr. Paul Nolte, Freie Universität Berlin
- Prof. Dr. Marion Schick (Vorsitzende und Mitglied bis Februar 2010), seit Februar 2010 Ministerin für Kultus, Jugend und Sport des Landes Baden-Württemberg
- Prof. Dr. Margarete Schuler-Harms, Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg
- Prof. Dr. Martina Stangel-Meseke, BiTS Business and Information Technology School gGmbH Iserlohn