06.04.20
Die Alten wegsperren?
Maybrit Illner fragt in einer Sonntags-Spezialausgabe, wie es in der Gesellschaft beim Umgang mit Corona weitergehen könnte
(MEDRUM) Der größte Teil der Bevölkerung lebt mit einer rigiden Ausgangssperre in Deutschland, die die Bundeskanzlerin im Verein mit den Regierungschefs der Bundesländer verhängt hat. Maybrit Illner diskutierte nun in ihrer Spezialausgabe am Sonntagabend, wie lange dies noch hinnehmbar ist und wie das Leben in Deutschland weitergehen könnte.
Schluß mit lustig
Der Staat hat Leben und Rechte der Bürger massiv eingeschränkt. Einige Grundrechte sind zur Zeit völlig außer Kraft gesetzt, wie beispielsweise das Recht auf Versammlungsfreiheit. Sozialkontakt ist nahezu verboten. Ausgang außerhalb der beruflichen Tätigkeit in systemrelevanten Bereichen ist nur noch höchstens zwei Personen erlaubt. Selbst das Hinsetzen auf eine Parkbank ist in vielen Gebieten nicht mehr statthaft. Schulen, Kindertagesstätten, Gaststätten, Restaurants, Eisdielen, Autohäuser, Fahrradläden, Friseurläden, Theater, Kinos, Spielplätze, Stoff- und Schuhgeschäfte sowie Wertstoffhöfe und viele weitere Örtlichkeiten dürfen nicht mehr betrieben und betreten werden. Das Verbot geht sogar so weit, dass es untersagt wird, in der eigenen Wohnung eine Party mit anderen Personen zu feiern. Es drohen zum Teil massive Bußgelder, in bestimmten Fällen sogar Gefängnisstrafen. Das Ganze erinnert stark an Peter Hahne's "Schluss mit lustig" aus dem Jahr 2004, das er mit Blick auf den Terrorangriff 2001 in New York schrieb. Nie traf das Ende der Spaßgesellschaft seit dem Ende des 2. Weltkriegs allerdings wohl mehr zu als gerade jetzt. Fast 11.000 Tote, allein in den USA bis Dienstagmorgen, sind ein tragischer Beleg dafür.
Allmählich wird vielen indes klar, dass dieser "Notbetrieb", den die führenden Politiker und Parlamente dem Land verordnet haben, nur noch eine begrenzte Zeit durchgehalten werden kann, wenn nicht das gesamte Land wirtschaftlich und sozial zusammenbrechen soll. Die besondere Schwierigkeit besteht darin, dass keineswegs davon ausgegangen werden kann, dass das Coronavirus in nächster Zeit verschwinden wird. Deshalb stellt sich die heikle Frage, was und wie das Virus in Zaum gehalten werden kann, wenn der Notbetrieb wieder zurückgestellt oder beendet wird.
Ausgangssperre - Quarantäne - Isolation (nur für Alte und Kranke)
In der Einleitung ihrer Sendung stellte Illner fest: "Dieses Virus betrifft alle, aber nicht alle in gleichem Maße. Besonders gefährdet sind alte und kranke Menschen. Müssen die Kontaktverbote für sie länger und strenger gelten als für alle anderen? Müssen sich die Großeltern isolieren, damit Kinder wieder zur Schule und Eltern wieder zur Arbeit gehen können?"
Im Verlauf der Gesprächsrunde, zu der auch Robert Habeck von den Grünen und Franziska Giffey von der SPD gehörten, wurde mit einem Einspieler das Problem der Isolierung in den Blick genommen. Ein Begriff mache die Runde: Umkehrisolation. Alte und kranke Menschen sollen nach einer Lockerung des Lockdowns weiter eingesperrt bleiben, womöglich auf Monate hinaus, so der Sprecher. Dann wurden drei Zitate präsentiert:
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Prof. Dr. Wolfgang Greiner, Gesundheitsökonom Uni Bielefeld:
„Ich halte viel von dem Vorschlag, statt der gesamten Bevölkerung gezielt besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen zu isolieren, insbesondere Ältere und Vorerkrankte. Denkbar wäre eine Ausgangssperre für Personen über 70 Jahre.”
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Dilek Kalayci, SPD, Gesundheitssenatorin in Berlin
„Es ist wirklich der richtige Zeitpunkt, ältere Menschen in Quarantäne zu nehmen. Alle über 70-Jährigen in Quarantäne. Das ist das Einzige, was wirklich hilft."
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Boris Palmer B' 90/Die Grünen, Oberbürgermeister Tübingen
„Menschen, die über 65 Jahre alt sind und Risikogruppen, werden aus dem Alltag herausgenommen und vermeiden weiter Kontakte. Jüngere, die weniger gefährdet sind, werden nach und nach kontrolliert und wieder in den Produktionsprozess integriert. Solche Strategien müssen in den nächsten Wochen diskutiert ... werden."
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Danach fragte Illner (33. Minute): "Robert Habeck, wir haben gerade Boris Palmer zugehört, der auch für die Zeit nach der Lockerung vorschlägt, die älteren Menschen, er sagt, mit 65, besser zu schützen. Das ist natürlich ein Euphemismus. Am Ende geht es darum, sie mehr zu isolieren. Ist es in Ihren Augen möglich, ist es wichtig, darüber zu reden, dass, damit die Jüngeren wieder rauskönnen, die Alten rein müssen oder drinbleiben müssen?"
Ein Dilemma: Lockerungen der Einschränkungen, aber Schutz für Alte und Kranke
Die rigide Forderung, die Alten wegzusperren, damit die harten Einschränkungen für die Jüngeren wieder zurückgenommen werden können, bejahte die Runde zwar nicht, aber konkret durchdachte und überzeugende Lösungen hatte (noch) niemand als Alternative anzubieten, weder auf der politischen noch auf der Ärzteseite. Einig waren sich die Gesprächsteilnehmer allerdings darin, dass die jetzigen Einschränkungen wieder gelockert werden müssten, und dass die Verpflichtung bestehe, dabei Alte und Kranke zu schützen:
- Habeck meinte, er glaube, wir bräuchten dringend eine Diskussion über eine andere Strategie, auf ewig hielten wir das als Gesellschaft nicht aus. Aber von dem Vorschlag der Umkehrisolation, die Alten wegzusperren, halte er gar nichts. Das gehe in die falsche Richtung. Es gebe bessere Überlegungen, die Abwägungsfrage werde noch viel schwieriger und komplizierter. Schützen ja, auch wenn wir das Virus differenzierter bekämpfen, darauf laufe es ja hinaus, nicht wie bisher mit dem Holzhammer alles plattzuhauen, sondern zu gucken, ob man nicht, quasi wie mit einem Florett zu kämpfen, viel genauer, flexibler und schneller dahingehen könne, wo das Virus sei.
- Auch der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, lehnte den Begriff der Umkehrisolation ab. Es gehe eher um Umsorgen, um Behüten. Das habe eine andere Bedeutung als die Menschen wegzusperren. Aber eines besonderen Schutzes bedürften sie. Reinhardt hob zwar hervor, es sei keine Frage, jedes einzelne Leben zähle. Er unterstrich aber ebenso die Notwendigkeit zu Überlegungen über eine baldige Lockerung mit dem Hinweis, dass es auch Leute gebe, die fragten, ob nicht das aktuelle Aufrechterhalten der Shutdowns, in der gleichen Dimension, nicht andere unangemessen schädige. Dafür bräuchte man differenzierte und intelligente Lösungen.
- Die Notwendigkeit zur Lockerung der Einschränkungen wurde ebenso von Franziska Giffey betont. Sie sprach sich aber ebenso gegen Isolierung von Bevölkerungsgruppen aus. Sie meinte, es könne nicht funktonieren, eine Zweiklassengesellschaft zu bilden, bei der die Einen rausgehen dürften und die Anderen drin bleiben müssten. Es sei auch schwierig, eine Grenze zu ziehen. Das sei nicht wünschenswert und deshalb müssten andere Möglichkeiten überlegt werden.
Corona ein Hammer Gottes?
Das Schlusswort überließ Maybrit Illner einer 101-jährigen Frau namens Lisel Heise aus Kirchheimbolanden, die trotz ihres hohen Alters noch als Stadträtin aktiv ist. In einem Einspieler merkte sie am Ende der Sendung zur Coronakrise an: "Scheinbar muss der Mensch vom lieben Gott ab und zu mal so einen Hammer kriegen, dass er wieder normal lebt."