08.09.10
Das Integrationsdefizit der "politischen Klasse"
von Kurt J. Heinz
(MEDRUM) Jeder Politiker, der etwas auf sich hält, ist bemüht zu verkünden, wie verwerflich Thilo Sarrazins Thesen sind, doch wie wichtig Integration sei. So scheint es. Der Streit um Sarrazin und seine Analyse legt offen, daß es ein zweites, ähnlich wichtiges Integrationsdefizit in Deutschland gibt.
Das Volk will nicht so, wie es die "politische Klasse" will. Katrin Göring-Eckardt, Politikerin der Grünen und Präses der Synode der EKD, meinte am Sonntag bei Anne Will, die "politische Klasse" habe sich eindeutig zu den "wirklich rassistischen Äußerungen" von Sarrazin geäußert. Recht hat sie. Doch das ist nur die eine Seite einer Münze, die ohne die andere Seite nichts wert ist. Die andere Seite ist: Das Volk richtet sich bei seiner eigenen Willensbildung nun nicht danach, wie sich die politische Klasse geäußert hat. Auch wenn Katrin Göring-Eckardt und ihresgleichen zehn Mal betonen, dass sie die Thesen Sarrazins als rassistisch verurteilt haben, schert sich das Volk (mit dem ihm eigenen Gespür) den berühmten feuchten Kehricht um die Anti-Thesen von Parteispitzen. Es weiß, wie es um die Scheinwelt bestellt ist, die ihr von der politischen Klasse präsentiert wird und was davon zu halten ist. Das Volk sitzt nicht in einem von der Parteienwelt erdachten Kokon, sondern lebt in der Realität. Und zwischen diesen Welten bestehen erhebliche Diskrepanzen. "Das Volk lässt sich nicht länger für dumm verkaufen", entgegnete der Medienwissenschaftler Norbert Bolz auf die wenig überzeugenden Klischees, die die Vizechefin des Bundestages Göring-Eckardt bei Anne Will präsentierte.
Göring-Eckardts Sprache von der politischen Klasse war verräterisch. Sie hat messerscharf in die Richtung eines Integrationsdefizites gezeigt, das in Deutschland immer größer zu werden droht. Denn: Auch die politische Klasse muß sich integrieren. Sie muß in einer Demokratie Teil des Volkes sein und bleiben, das sie vertreten will. Das Volk allein ist als Souverän befugt, Parteienvertretern ein Mandat auf Zeit zu erteilen, damit diese seine Interessen vertreten und seinem Wohl dienen (Grafik links, nach Friedrich II.). Im Amtseid schwören Minister, ihre Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen, seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm zu wenden. Dazu gehören zwingend zwei Dinge: Zum einen die Bereitschaft, sich diesem Prinzip unterzuordnen und die Bürger loyal zu vertreten und zum zweiten das Wissen darüber, was Wohl, Nutzen und Schaden des deutschen Volkes ist. Beides ist Voraussetzung für eine funktionsfähige, freiheitliche und parlamentarische Demokratie. Doch scheint diese Voraussetzung der "politischen Klasse" ein beträchtliches Stück weit abhanden gekommen zu sein. Nur so lässt sich erklären, daß Spitzenvertreter aller etablierten Parteien Sarrazin verurteilen, ohne zu merken, daß sie das zentrale Nervensystem des Volkes in Alarmzustand versetzen. Denn dieses Volk spürt, was zu seinem Wohl, was zu seinem Nutzen und was zu seinem Schaden geschieht.
Der Krug ist lange zum Brunnen gegangen, jetzt ist er gebrochen. Bei der voreiligen Ächtung Sarrazins wurde der Bogen überspannt. Die Parteien und ihre Vertreter dürfen sich nicht als politische Klasse über das Volk erheben. Doch genau das ist seit Jahren geschehen. Der Historiker Arnulf Baring sah dies in der Sendung "hartaberfair" vor einigen Tagen so: "Die Entschlossenheit der Politiker, sich im Grunde genommen auch über die Haltung der Bevölkerung hinwegzusetzen, ist bemerkenswert." Dies spiegelt sich in der Gruppe der Nichtwähler wider, die unaufhaltsam gestiegen ist. Sie sind ein schlagender Beleg dafür, daß sich ein beträchtlich angewachsener Teil des Volkes nicht mehr durch die Parteien vertreten sieht. Die Parteien verlieren dabei - unabhängig von der formalen Legitimation durch das Wahlrecht - ein gutes Stück ihrer politischen Legitimation. Bei der Verfassungsänderung in Bremen zur Gleichstellung homosexueller Partnerschaften repräsentierten die zustimmenden Parteien trotz ihrer Zweidrittelmehrheit der Sitze in der Bremischen Bürgerschaft wegen des großen Nichtwähleranteils nicht einmal mehr 38 Prozent der Wahlberechtigten Bremens. Dies ist angesichts der Tragweite von Verfassungsänderungen keine überzeugende politische Legitimationsbasis mehr.
Die Sarrazin-Debatte hat in schonungsloser Weise eine klaffende Wunde zwischen "politischer Klasse" und der "Basis" offengelegt. Sie blutet heftig. Diese Blutung wird auch durch das nachträgliche Kommunizieren nach unten - wie es Andrea Nahles angekündigt hat - kaum gestillt werden können. Grundlegende Funktion von Kommunikation ist Informationsfluß in beiderlei Richtung, von oben nach unten, aber auch von unten nach oben. Wenn die Parteien ernsthaft um Heilung bemüht sein wollen, müssen sie der Kommunikation von unten nach oben das nötige Gehör schenken. Nur so können sie sich re-integrieren. Sarrazin ist ihnen dabei um einiges voraus, obwohl er angeblich "nur" ein Mann der Zahlen ist. Doch hinter jeder seiner Zahlen steht ein menschliches Schicksal, das sich darin abbildet. Das sollten auch seine Gegner begreifen können. Nur dann können sie dazu beitragen, die Integrationsdefizite dieser Gesellschaft zu lösen.
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Das Buch von Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab
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Leserbriefe
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Große Klasse „Das Integrationsdefizit der politischen Klasse“.
Horst Niehues
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Integration der Politiker
Seht geehrter Herr Heinz! Danke für diese treffende Beurteilung der Situation in Ihrem Artikel. Es wird immer deutlicher, dass die Politiker in der BRD jegliche Bodenhaftung schon längst verloren haben. Sie schweben in einer selbstgeschneiderten Traumwelt. Wie immer wieder sichtbar wird, halten sie sich selbst für den Staat und sorgen für ihr eigenes Wohl. Sie regieren über die Köpfe und die Realität der Bürger hinweg. Es fällt auf, dass Männer und Frauen welche wagen die Wahrheit zu sagen, einer nach dem andern demontiert werden. Es ist wirklich höchste Zeit, dass die Volksvertreter (?) einmal selbst einen Integrationskurs in die deutsche Wirklichkeit absolvieren!