16.10.08
Flächendeckende Einführung der Ganztagsschule und pädagogische Schulreform
Frankfurter Zukunftsrat: Schule und Lehrer als "Menschenbildner"
(MEDRUM) Der Frankfurter Zukunftsrat hat sich gestern in 19 Thesen zur Zukunfts-Strategie Erziehung und Bildung geäußert. Er fordert eine Woche vor dem Bildungsgipfel zwischen Bund und Ländern in seinem Thesenpapier eine flächendeckene Einführung der Ganztagsschule und eine grundlegende pädagogische Reform, um in den Schulen künftig wertevermittelnde Erziehung zu leisten.
Der Frankfurter Zukunfstrat will den Lehrer in das Zentrum gestellt sehen, um die Defizite in der Bildung zu beheben. Bildung sei umfassend zu verstehen. Sie dürfe nicht nur auf den Erwerb von Wissen und Können beschränkt werden, sondern müsse die persönlichkeitsbildende Erziehung und Vermittlung von Werten einschließen. Dies könnten Familien nur noch unzureichend erfüllen. Die beste Möglichkeit, den Bildungs- und Erziehungsauftrag zu erfüllen, sei die Einführung der Ganztagsschule. Lehrer müssten den Erziehungsauftrag der Eltern fortsetzen und zu "Menschenbildnern" werden. Dafür müsse jedoch der Lehrer in das Zentrum gestellt und seine Aus- und Fortbildung grundlegend erneuert werden, damit Kinder und Jugendliche von Lehrern in der Ganztagsschule ganzheitlich gefördert könnten. Dies sind die Kernforderungen, die in den "19 praktischen Thesen zur Strategie Erziehung und Bildung" enthalten sind. Die Thesen sind in einer unstrukturierten Ansammlung von Aussagen über Defizite, Ursachen, Forderungen und Erläuterungen zusammengestellt. Ihr Kern wird hier zum besseren Überblick in strukturierter Form wiedergegeben.
Kern der Zukunftsrat-Thesen im Überblick:
Defizite
- Zu viele Kinder leiden an einem Mangel an Zuwendung von Erwachsenen und an einem Mangel an gestalteter Gemeinschaft.
- Die Chancen für Kinder aus bildungsfernen Schichten, eine höhere Bildung zu erlangen, bleiben gering.
- Die Integrationsförderung von Kindern ausländischer Herkunft gelingt nur bedingt, auch die Förderung und Charakterbildung der Hochbegabten aller Schichten bleibt unzureichend.
Ursachen
- Eine Ursache vieler Defizite liegt in dem einseitigen Bildungsbegriff der deutschen Bildungspolitik. Sie reduziert Bildung technokratisch auf Kompetenz und Wissenserwerb. Bildung heißt, sich Werte, Wissen und Können aneignen, um daraus Orientierung für das Handeln zu gewinnen.
- Bildung der Persönlichkeit von Kindern und Jugendlichen bleibt weitgehend der Familie überlassen, die sie nur noch unzureichend erfüllen kann.
- Die bisherigen Reformen im Bildungswesen sind an den wichtigsten Personen, den Lehrern, vorbeigegangen.
Zentrale Annahme
Die beste Möglichkeit, den Bildungs- und Erziehungsauftrag in gleicher Weise zu erfüllen und allen Kindern und Jugendlichen gestaltete Gemeinschaften und Zuwendung von Erwachsenen zu sichern, ist die Ganztagsschule. Durch die flächendeckende Einführung der Ganztagsschule gewinnt Deutschland den Anschluss an Europa.
Forderungen
- Die Ganztagsschule muss in Deutschland flächendeckend und verpflichtend eingeführt werden.
- Lehrer sollten die familiäre Erziehung fortsetzen und Defizite ausgleichen. Sie sollten sich nicht nur als "Unterrichter" verstehen, sondern zu "Menschenbildnern" werden.
- Die Aus- und Fortbildung von Lehrern muss grundlegend erneuert werden.
- Das Selbstverständnis des Lehrers, seine Berufsmotivation, seine Rolle, seine Aus- und Fortbildung müssen ins Zentrum aller bildungspolitischen Anstrengungen gerückt werden. Darin drücken sich Wichtigkeit und Wertschätzung der Person des Lehrers aus.
Der strategische Ansatz des Frankfurter Zukunftsrates zielt darauf ab, Schulen und Lehrern eine zentrale Rolle in der persönlichkeitsbildenden Erziehung von Kindern und Jugendlichen zuzuweisen, indem der Bildungsauftrag der Schule in einem Ganztagsbetrieb über die Vermittlung von Wissen und Können hinaus auf die wertevermittelnde Erziehung erweitert wird. Zur Wertebasis und Werteinhalten selbst enthält das Thesenpapier - abgesehen von respektvollem Umgang miteinander - keine Aussagen, obwohl es mehrfach von Wertevermittlung und Menschenbild spricht. Es lässt jedoch offen, welches Menschenbild gemeint ist. Auch die Frage, ob dem Lehrer die Rolle übertragen werden kann und darf, sein Menschenbild (oder ein anderes, und welches?) Kindern und Jugendlichen anzuerziehen, wird in den Thesen nicht behandelt oder problematisiert. Ebenso wenig werden Rollenverteilung und Rollenkonflikt zwischen Elternhaus und Schule thematisiert.
Die Thesen des Frankfurter Zukunftsrates dürften Grund zu intensiver Auseinandersetzung geben, sofern sie in der öffentlichen Debatte einen bedeutsamen Stellenwert erlangen sollten. Die gegenwärtige Rechtsprechung hält den schulischen Eingriff in Elternrechte nicht für problematisch. Sie geht in Urteilen, in denen Konflikte zwischen Elternhaus und Schule zu entscheiden sind, davon aus, dass die allgemeine Schulpflicht das Elternrecht in zulässiger Weise beschränkt, wie beispielsweise das Oberlandesgericht Hamm in einem Urteil im August 2008 feststellte. Derartige Konflikte dürften sich bei einer Neudefinition des schulischen Bildungsauftrages im Sinne des Frankfurter Zukunftsrates jedoch häufen und verschärfen.
MEDRUM-Artikel (Pressemeldung Frankfurter Zukunftsrat): 19 Thesen zur Zukunfts-Strategie Erziehung und Bildung