Christel Humme, MdB
Embryonale Stammzellforschung
Sehr geehrte Damen und Herren,
Sie haben sich an der „Aktion SOS Leben“ der Deutschen
Vereinigung für eine christliche Kultur zur politischen Debatte über die
Bedingungen der embryonalen Stammzellforschung beteiligt. Für Ihre
diesbezügliche E-Mail an den Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Herrn Dr.
Peter Struck, MdB, danke ich Ihnen. Als fachlich zuständige stellvertretende
Fraktionsvorsitzende bin ich gebeten worden, Ihnen zu antworten. Gerne nehme
ich zur aktuellen Diskussion über die Frage der Bedingungen embryonaler
Stammzellforschung in Deutschland Stellung. Da bislang rund 3.000 E-Mails und
Postkarten im Rahmen dieser Aktion bei uns eingegangen sind und wir trotz der
hohen Zahl jede Eingabe beantworten möchten, bitte ich um Verständnis dafür,
dass dies aus Kapazitätsgründen nicht in „personalisierter“ Form geschehen
kann.
Wie Sie wissen, ist die Stammzellforschung ein
Forschungszweig der medizinischen Grundlagenforschung. Aufgrund ihres
Entwicklungspotentials in alle Zelltypen des menschlichen Körpers stellen
embryonale Stammzellen dabei ein wichtiges Forschungsobjekt der
zellbiologischen Forschung dar. Embryonale Stammzellforschung dient dazu, ein
besseres Verständnis der molekularen Mechanismen von Zellen sowie der
Regulierung der Vermehrung und Differenzierung von Zellen, insbesondere in
frühen Entwicklungsstadien zu entwickeln. Die Hoffnung auf Seiten der Forschung
besteht darin, über Erkenntnisse der Grundlagenforschung hinaus zur Entwicklung
medizinischer Therapien zur Heilung von bislang unheilbaren Krankheiten
beizutragen.
Die aktuelle Debatte bezieht sich auf die Frage, welche
Bedingungen für die Forschung mit embryonalen Stammzellen künftig in
Deutschland gelten sollen. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass die Erzeugung
und Tötung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken in Deutschland durch das
Embryonenschutzgesetz verboten ist. Dieses Verbot ist nicht Gegenstand
der gegenwärtigen Debatte.
Die aktuelle Debatte bezieht sich vielmehr auf die im Stammzellgesetz
geregelte Frage, unter welchen Bedingungen embryonale Stammzelllinien nach
Deutschland eingeführt werden dürfen und welche Anreize ggf. von diesen
Bedingungen für die Erzeugung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken im
Ausland ausgehen könnten.
Der Deutsche Bundestag hat Anfang 2002 mit der derzeit
geltenden Stichtagsregelung im Stamm-zellgesetzt einen Kompromiss zwischen dem
ethischen Ziel des Embryonenschutzes einerseits und der grundrechtlich
garantierten Forschungsfreiheit andererseits gefunden und den Import von
menschlichen embryonalen Stammzelllinien zu Forschungszwecken unter engen
Voraussetzungen zu-gelassen. Demnach ist die Einfuhr und Forschung an
embryonalen Stammzellen seither nur erlaubt, wenn diese vor dem 1. Januar 2002
im Ausland aus Embryonen gewonnen wurden. Mit dieser Stichtagsregelung soll
verhindert werden, dass aufgrund einer von Deutschland ausgehenden Nachfrage
nach embryonalen Stammzelllinien im Ausland menschliche Embryonen zu
Forschungs-Zwecken getötet werden.
Die gesellschaftliche Debatte war mit der Entscheidung des
Deutschen Bundestages vor fünf Jahren nicht beendet. Insbesondere Vertreter der
Wissenschaft kritisieren seit der Verabschiedung des Stammzellgesetzes die in
ihren Augen zu restriktiven Regelungen des Stammzellgesetzes. So wird seitens
der Wissenschaft dargelegt, dass den Forscherinnen und Forschern in Deutschland
nur noch wenige Stammzelllinien zur Verfügung stünden, die zudem nicht mehr den
international anerkannten Qualitätsstandards entsprächen. Dies könne in naher
Zukunft dazu führen, dass in Deutschland embryonale Stammzellforschung auf
hohem Niveau unmöglich wird. Außerdem klagen Wissenschaftler über mangelnde
Rechtssicherheit, wenn sie sich an internationalen Forschungsprojekten
beteiligen wollen. Aus Sicht der Wissenschaft drohe damit der deutschen
Stammzellforschung die internationale Isolation.
Vor diesem Hintergrund hat sich in den vergangenen Monaten
eine neue Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen der embryonalen
Stammzellforschung in Deutschland entwickelt, die inzwischen zu fünf
interfraktionellen Initiativen geführt hat:
-
Eine Gruppe von Abgeordneten plädiert für die Beibehaltung
des bisherigen Stichtages im Stammzellgesetz. Die Initiatoren sehen keine
überzeugenden wissenschaftlichen oder ethischen Argumente für die Notwendigkeit
einer Gesetzesänderung. Die Forschung habe bislang zu keinen Ergebnissen
geführt, die therapeutische Anwendungen in absehbarer Zeit denkbar erscheinen
ließen.
-
Die Gruppe, auf die Sie in Ihrer Eingabe Bezug nehmen,
fordert das ausnahmslose Verbot des Imports embryonaler Stammzellen. Die
Initiatoren argumentieren, dass selbst die geltenden Importbedingungen die
Achtung der Menschenwürde nicht im gebotenen Maße zum Ausdruck brächten.
-
Eine weitere Gruppe von Parlamentariern setzt sich dagegen
für die komplette Aufhebung der Stichtagsregelung und der Strafvorschriften
ein. Die geltenden Bestimmungen schränkten die verfassungsrechtlich garantierte
Forschungsfreiheit ein und verhinderten somit die Entwicklung medizinischer
Therapien, so die Begründung. Aus dem verfassungsrechtlich garantierten Schutz
der Menschenwürde und des menschlichen Lebens ergebe sich aber die staatliche
Pflicht, die Erforschung medizinischer Therapien zu ermöglichen.
-
Eine vierte kompromissorientierte Initiative schlägt die
einmalige Verschiebung des Stichta-ges in die jüngste Vergangenheit (1. Mai
2007) sowie eine Klarstellung der Strafbarkeitsregelung vor. Die Initiatoren
argumentieren, mit der einmaligen Stichtagsverschiebung könnte der deutschen
Forschung der Zugriff auf mehr als 200 statt derzeit 20 embryonale
Stammzelllinien ermöglicht werden, ohne die Schutzwirkung des bestehenden
Gesetzes abzuschwächen. Damit würde der nach langen gesellschaftlichen und
politischen Diskussionen im Jahr 2002 erreichte Kompromiss nicht aufgehoben,
sondern fortgeschrieben, und die ethische Substanz des Stammzellgesetzes
erhalten. Mit einer klarstellenden Begrenzung der Strafbewehrung auf das Inland
solle den Forschern überdies Rechtssicherheit gegeben werden.
-
Ein fünfter Gesetzentwurf sieht lediglich eine
klarstellende Begrenzung der Strafbewehrung auf das Inland vor.
Alle fünf Initiativen sind inzwischen in den Deutschen
Bundestag eingebracht worden. Das Parlament hat sich in der 1. Lesung am 14.
Februar 2008 im Rahmen einer dreistündigen Debatte in einer sehr sachlichen und
differenzierten Weise mit den oben skizzierten Fragen auseinandergesetzt. Im
März hat der federführende Bundestagsausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung eine Expertenanhörung durchgeführt und allen
Abgeordneten die Möglichkeit geben, sich noch einmal ausführlich über das Thema
zu informieren und sich intensiv mit der Problematik zu beschäftigen. Die
abschließende Entscheidung des Bundestages erfolgt voraussichtlich im April im
Rahmen der 2./3. Lesung der Gesetzentwürfe.
Für die SPD-Fraktion war immer klar, dass diese Thematik
mit ethisch hoch komplexen und moralisch sehr umstrittenen Fragen verbunden
ist, die sehr persönliche Antworten erfordern und nicht nach objektiven
Kriterien entschieden werden können. Daher haben wir als SPD-Fraktion auch
keine einheitliche Position in dieser Frage erarbeitet. In beiden
Koalitionsfraktionen gibt es sowohl Befürworter wie Gegner einer Lockerung der
gesetzlichen Regelungen. Da es sich um eine ethische Grundsatzfrage handelt,
bleibt hier jede/r Abgeordnete allein dem persönlichen Gewissen verantwortlich.
Unabhängig vom Ausgang der Debatte zur embryonalen
Stammzellforschung ist die SPD-Bundestagsfraktion der Überzeugung, dass gerade
auch der Förderung der ethisch unstrittigen Forschung mit adulten Stammzellen
weiterhin eine hohe Bedeutung zukommen muss. Die in jüngerer Zeit gemeldeten
Erfolge in diesem Forschungsbereich wecken Hoffnung darauf, dass sich
langfristig die Möglichkeit eröffnen könnte, auf diesem Wege körpereigene
Ersatzzellen herstellen zu können. Zwar ist gegenwärtig noch nicht absehbar, ob
und wann dieser Fortschritt zu medizinisch verwertbaren Ergebnissen führen und
therapeutisch nutzbar sein könnte. Immerhin können die vorliegenden Arbeiten
aber als Indiz dafür gewertet werden, dass die ethisch unproblematischen
adulten Stammzellen beziehungsweise die Reprogrammierung normaler Körperzellen
viel mehr Potenzial bergen als von Skeptikern bisher behauptet. Daher haben wir
auch die jüngste Initiative der Bundesregierung begrüßt, einen neuen
Förderschwerpunkt auf „Alternative Verfahren der Gewinnung pluripotenter
Stammzellen“ zu legen.
Die aktuelle Diskussion zur Frage der embryonalen
Stammzellforschung zeigt erneut, dass es auf komplexe ethische Fragen nie
abschließende oder allgemeingültige Antworten geben wird. Es wird daher eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe bleiben, die erforderliche Abwägung zwischen
ethischen Grundsätzen und medizinischen oder wissenschaftlichen Zielsetzungen
immer wieder sorgsam und verantwortungsbewusst vorzunehmen. Ich bin davon
überzeugt, dass die Mitglieder des Deutschen Bundestages die anstehende
Entscheidung in diesem Sinne wohl überlegt und in sehr verantwortungsvoller
Weise treffen werden.
Mit freundlichen Grüßen
Christel Humme, MdB
März 2008
Seit 1998 ist Christel Humme direkt gewählte Abgeordnete und vertitt im Deutschen Bundestag den nördlichen Ennepe-Ruhr-Kreis mit den Städten Hattingen, Herdecke, Sprockhövel, Wetter und Witten. Seit dem 26. November 2007 ist sie als stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion für die Politikbereiche Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie Bildung und Forschung zuständig.
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