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Bertelsmann im kuriosen Widerspruch


26.09.10

Bertelsmann im kuriosen Widerspruch

Schnellstudie der Bertelsmann-Stiftung: Bertelsmann Verlag verbreitet mit seinem "Verkaufsschlager Sarrazin" angeblich Vorurteile und Legenden

von Kurt J. Heinz

(MEDRUM) Die Bertelsmann-Stiftung sagt zum Verkaufsschlager des Bertelsmann-Verlages DVA "Deutschland schafft sich ab", Sarrazin verbreite "Vorurteile" und "Legenden". Er habe nicht recht, sagt die Stiftung, und kommt sogar zum gegenteiligen Schluß: "Deutschland schafft sich nicht ab."

Bis Mitte September erreichte das heiß umstrittene Buch "Deutschland schafft sich ab" von Thilo Sarrazin bereits eine Auflagenhöhe von 650.000 Exemplaren. Es ist nicht verwunderlich, daß der Bertelsmann-Verlag in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 18. September zufrieden verkündete: "Die Druckauflage liegt aktuell bei 650.000 Exemplaren. Das freut uns." Recht kurios ist, daß die Bertelsmann-Stiftung bereits fünf Tage später als "Faktencheck" zu diesem Erfolg verkündete: "Deutschland schafft sich nicht ab. Auch wenn zahlreiche Integrationsaufgaben noch nicht gelöst sind, erweisen sich viele der behaupteten Tatsachen lediglich als langlebige Vorurteile und Legenden." Ihre Stellungnahme gegen Sarrazins Buch begründet die Bertelsmann-Stiftung mit zehn Kernaussagen, die als Gegenthesen verwendet werden:

  1. Alteingesessene und Zuwanderer gleichermaßen sind mit der Integrationspolitik der letzten Jahre weitgehend zufrieden und blicken recht zuversichtlich in die Zukunft der Integration und Integrationspolitik.
  2. Insgesamt herrscht in Deutschland auf beiden Seiten der Einwanderungsgesellschaft ein freundliches Integrationsklima.
  3. Weniger als ein Drittel (30 Prozent) der deutschen Staatsbürger glauben, dass die Interessen der Ausländer in Deutschland zu stark berücksichtigt werden.
  4. Dass beide Seiten gleichermaßen für eine gelungene Integration verantwortlich sind, dessen sind sich sowohl Zuwanderer als auch Alteingesessene bewusst.
  5. Migranten stimmen der Demokratie in Deutschland fast ebenso sehr zu wie die deutschstämmige Bevölkerung.
  6. Die in Deutschland lebenden Muslime sind im Durchschnitt zwar religiöser als die übrigen Einwohner, aber gleichwohl in religiösen und politischen Fragen nicht weniger tolerant.
  7. Die Zuwanderer in Deutschland schauen mit Zuversicht in das kommende Jahrzehnt. 53 Prozent von ihnen glauben mit Blick auf die nächsten zehn Jahre an eine gute Zukunft in der Bundesrepublik, bei den unter 25-Jährigen sind es sogar 70 Prozent.
  8. Die überwiegende Mehrheit der Migranten fühlt sich in Deutschland wohl.
  9. Eine überwältigende Mehrheit der Migranten wünscht sich nach einer Umfrage des Instituts Allensbach im Auftrag der Bertelsmann Stiftung von 2009 einen engen sozialen Kontakt zur deutschen Mehrheitsbevölkerung.
  10. Durchschnittlich 60 Prozent der Erstklässler haben einen Freund oder eine Freundin anderer ethnischer Herkunft. Bei den Kindern von Migranten sind es sogar 72 Prozent. Freundschaften zwischen den Kulturen sind in diesem Alter eher die Regel als die Ausnahme.

Was, wenn der Bertelsmann-Verlag das Urteil der Stiftung schon vor Erscheinen des Buches eingeholt hätte? Wären die vermeintlichen Vorurteile und Legenden Thilo Sarrazins dann trotzdem im Bertelsmann-Verlag DVA erschienen? Darüber kann wohl ebenso trefflich gestritten werden wie über das Buch selbst, über das eine Schuldirektorin in RTL sagte, sie habe es nicht gelesen, aber nach dem was sie so gehört habe, sei es nicht hilfreich. Die leitende Schulpädagogin folgt dem Beispiel der Kanzlerin.

ImageDie Direktorin könnte sich jetzt noch zusätzlich auf die Bertelsmann-Stiftung und deren Urteil berufen. Wäre das hilfreich? Ein Beispiel dazu: In seinem Buch geht Sarrazin unter anderem auf die Verhältnisse bei der Erwerbstätigkeit ein und stellt dabei nach den veröffentlichten Zahlen des Statistischen Bundesamtes zur Intergrationsproblematik in den Arbeitsmarkt fest: "Relativ zur Erwerbsbevölkerung leben bei den muslimischen Migranten viermal so viel Menschen von Arbeitslosengeld und Hartz IV wie bei der deutschen Bevölkerung: Bei den muslimischen Migranten entfallen auf 1oo Menschen, die ihren Lebensunterhalt überwiegend aus Erwerbstätigkeit bestreiten, 43,6 Menschen, die überwiegend von Arbeitslosengeld und Hartz IV leben, bei der deutschen Bevölkerung sind es 10,4." (Säulendiagramm oben) Unterstellt man, daß das Urteil der Bertelsmann-Stiftung über Sarrazins Buch auch auf diese Aussage zutrifft, wäre zu folgern, daß das Statistische Bundesamt "Vorurteile und Legenden" verbreitet. Wer sich allerdings mit der als Faktencheck bezeichneten Stellungnahme der Bertelsmann-Stiftung beschäftigt, stellt fest, daß die Stiftung zu diesen wie zu vielen anderen Fakten keine Aussage macht. Wer den Erfolg deutscher Integrationspolitik jedoch aufgrund der hier dargestellten Fakten mißt, kann nicht zum Urteil kommen, sie sei erfolgreich gewesen. Die Gegenthesen der Bertelsmann-Stiftung über Sarrazins Buch haben also keine hohe Aussagekraft: Sie verhüllen, was Sarrazin enthüllt. 

Wer sich mit der These der Bertelsmann-Stiftung, Sarrazin verbreite "Vorurteile und Legenden" ernsthaft auseinandersetzen und zu einem verlässliches Urteil kommen will, kommt kaum an einer Lektüre von Sarrazins Buch vorbei. Hörensagen hilft weder der Kanzlerin noch der Schuldirektorin weiter, noch hilft es, Integrationsdefizite zu identifizieren, sie differenziert zu beschreiben und zu analysieren sowie zielgenaue Lösungsansätze für die Behebung von Integrationsproblemen und eine günstige Entwicklung Deutschlands zu erarbeiten. Doch genau dies ist ein Anliegen von Sarrazins Buch. In seiner Einleitung schreibt Sarrazin:

Die Existenzbedingungen gesellschaftlicher Formationen ändern sich unablässig, wenig bleibt, wie es ist. Nicht immer sind es Änderungen zum Positiven, wie die schrecklichen Verirrungen des 20. Jahrhunderts zeigen.

Der späte Willy Brandt sagte einmal sehr schön: »Nichts kommt von selbst, und nur wenig ist von Dauer.« Auf ganz lange Sicht ist sowieso alles menschliche Tun vergeblich, aber hilflos den historischen Geschicken ausgeliefert sind wir auch nicht.

Wie das meiste im Leben ist auch der Inhalt dieses Buch ambivalent: Die hier beschriebenen Trends nagen an den Wurzeln von materiellem Wohlstand und gesellschaftlicher Stabilität, aber es gibt immer Ansatzpunkte, manches zum Positiven zu wenden. Man muss es nur tun!

Sarrazin war sich des Widerspruchs wohl bewußt, dem sein Buch begegnen würde. Und er selbst hat von vorneherein keineswegs den Anspruch erhoben, endgültige Antworten geben zu wollen. Sarrazin dazu in seinem Buch:

In den letzten beiden Jahren habe ich wiederholt erfahren, welche Empfindlichkeiten manche Punkte wecken, die ich anspreche. Ich habe versucht, Zuspruch und Widerspruch produktiv umzusetzen, und äußere hier meine persönlichen Ansichten, unabhängig von beruflichen Tätigkeiten. Es schadet nicht, die eigene gefestigte Meinung immer wieder in Frage zu stellen, denn in der Weite der sozialen Wirklichkeit gibt es nur wenige endgültige und abschließende Antworten.

Wer Sarrazins Buch und seine differenzierenden Aussagen gelesen hat und diese dem pauschalierenden Urteil der Bertelsmann-Stiftung gegenüberstellt, gewinnt nicht den Eindruck, daß das Fazit der Stiftung mit dem Niveau von Sarrazins Buch auf Augenhöhe ist -noch eine Kuriosität! Den Bertelsmann-Verlag DVA und Sarrazin dürfte dies wenig schmerzen.


18.09.10 FAZ Bertelsmann-Vorstand: Wir freuen uns über Sarrazins Erfolg
25.09.10 RTL Bertelsmann-Studie: Deutschland schafft sich nicht ab

MEDRUM → Die Verfluchung Sarrazins (1)

MEDRUM → Die Verfluchung Sarrazins (2)

Das Buch von Thilo Sarrazin, erschienen in der Deutschen Verlagsanstalt: Deutschland schafft sich ab