27.11.15
Europäischer Gerichtshof beanstandet Unfreiheitsurteile deutscher Gerichte
Entscheidungen gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung des Abtreibungsgegners Günter Annen waren Verstöße gegen die Menschenrechtskonvention
(MEDRUM) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat festgestellt, dass mehrere Urteile deutscher Gerichte in einem Streitfall um Aktionen des Abtreibungsgegners Günter Annen gegen die Menschenrechtskonvention verstoßen haben. Der Gerichtshof sieht das Recht auf freie Meinungsäußerung von Günter Annen verletzt, dem durch deutsche Gerichte untersagt worden war, in der Nähe einer Klinik Flugblätter gegen die Abtreibung zu verbreiten.
Mit seinem gestrigen Urteil hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Entscheidung getroffen, die nicht nur von Gegnern der Abtreibung als schallende Ohrfeige für die Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland angesehen werden kann. Der EGMR stellte mit seinem am 26.11.15 veröffentlichten Urteil fest, dass die deutschen Gerichte mit ihren Urteilen gegen das Recht von Günter Annen verstoßen haben, seine Meinung gegen die Abtreibung frei zu äußern. Annen war etlichen Jahren zuvor durch deutsche Gerichte untersagt worden, seine abtreibungskritischen Flugblätter in der Nähe einer Klinik zu verteilen und darauf die Namen von Ärzten zu nennen, die dort Abtreibungen durchführen.
Landgericht und Oberlandesgericht entschieden gegen Annen
Ausgelöst wurde der Rechtsstreit bereits 2005. Der bundesweit bekannte Abtreibungskritiker Günter Annen setzt sich bereits seit vielen Jahren gegen Abtreibung ein. Er tat dies auch am 18. und 19. Juli 2005 mit Hilfe von Flugblättern in einer von Abtreibungsanhängern als drastisch empfunden Weise. Dabei nannte er auch Namen von Ärzten. Die betroffenen Ärzte hatten sich deshalb für ein Verbot der Flublattverteilung und Namensnennung eingesetzt und konnten sich damit vor deutschen Gerichten durchsetzen. So wurde Günter Annen durch das Landgericht Ulm am 22.01.2007 verurteilt, es zu unterlassen, in der Nähe einer Tagesklinik in Ulm Flugblätter zu verteilen, in denen die Namen von Ärzten genannt werden. Zwar hatte Annen gegen dieses Urteil Berufung eingelegt, doch das Oberlandesgericht Stuttgart wies seine Berufung noch 2007 zurück, ohne eine Revision zuzulassen.
Bundesverfassungsgericht lehnt Annahme der Beschwerde ab
Annen sah sich durch die Urteile der beiden Instanzgerichte in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt und hoffte, darin durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt zu werden. Doch das Bundesverfassungsgericht nahm seine Beschwerde von 2008 gar nicht erst zur Entscheidung an und wies diese 2009 als unzulässig zurück. Aus Sicht des Betroffenen war dadurch auch sein Recht auf ein faires Verfahren verletzt. Zudem hatte es zuvor der Bundesgerichtshof abgelehnt, dem Betroffenen Prozesskostenhilfe zu gewähren mit der Begründung mangelnder Erfolgsaussicht. Damit waren die Möglichkeiten des nationalen Rechtsweges für Günter Annen erschöpft.
Unrecht nach einem Jahrzehnt durch EGMR beseitigt
Der BGH hatte sich getäuscht. Denn der Gang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte war erfolgreich und verhalf dem Abtreibungsgegner nun zu seinem Recht auf freie Meinungsäußerung. Der EGMR entschied mit fünf zu zwei Richterstimmen, dass die deutschen Gerichte mit ihren Urteilen gegen die Menschenrechtskonvention und das darin in Art. 10 verbriefte Recht auf freie Meinungsäußerung verstoßen haben. Die Bundesrepublik Deutschland wurde zudem verurteilt, die bisherigen Kosten des Rechtsstreites von Günter Annen zu ersetzen.
Entwicklung zur Unfreiheit in Deutschland
Die Entscheidung des EGMR kann als denkwürdige Entscheidung eingestuft werden. Denn damit wird einem Staat, dessen Verfassungsgeber nach den Erfahrungen der Nazi-Diktatur die bürgerlichen Rechte als besonders schützenswert einstufte, attestiert, dass er mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung zumindest im Fall von Günter Annen nicht freiheitlich umgegangen ist. Eine Entwicklung zur Unfreiheit in Deutschland konstatierte 2009 auch der Philosoph Robert Spaemann. Angesichts von Bestrebungen, die Philosphin Edith Düsing als Dozentin von der Universität Köln zu verbannen, weil sie die Marburger Erklärung zum Schutz der Rede- und Wissenschaftsfreiheit unterzeichnet hatte, sagte Spaemann: "Das ist ungeheuerlich und wird leider immer schlimmer. Generell ist die Meinungsfreiheit jetzt schon auf katastrophale Weise eingeschränkt im Vergleich zu den 50er Jahren. Wir lebten damals in einem viel freieren Land."
Vor diesem Hintergrund erhält besonderes Gewicht, was der jetzt im Verfahren von Günter Annen erfolgreich für die Meinungsfreiheit streitende Anwalt, Leo Lennartz, dazu gegenüber MEDRUM sagte: „Das war ein 10-jähriger Kampf. Wenigstens der EGMR sorgt dafür, dass man in Deutschland Unrecht auch noch so nennen darf.“
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Leserbriefe
Recht so
Da kann ich nur mit wenigen Worten darauf sagen: Recht so, daß unsere deutschen Gerichte gerade in dieser wichtigen, moralischen Meinungsäußerung damit "was auf die Nase" kriegten.