20.05.10
Neulich in Frankreich
Kinder: ein selbstverständlicher Teil des Lebensreichtums oder ein seltenes Investitionsgut? -
Mentalitätsunterschiede mal anders
Adorján F. Kovács
(MEDRUM) Vor einigen Wochen war ich in Frankreich. Ich habe einen Arbeitsurlaub gemacht, in einem netten Hotel im idyllischen Département Tarn. Beim Frühstück fanden sich viele Familien im entsprechenden Raum versammelt. Als ich eintrat, fiel mir auf den ersten Blick auf, was jedem Besucher Frankreichs – überall dort - sofort auffällt, dass nämlich die Eltern in aller Regel jung sind, unter dreißig, und dass die Familien häufig mehr als zwei Kinder haben. Es handelte sich, um dies gleich zu betonen, keineswegs um Unterschichts-, sondern um Akademikerfamilien – in Deutschland fast undenkbar. Diese jungen Leute fühlten sich also keineswegs von Kindern eingeengt, sondern schienen optimistisch im Hinblick auf die Zukunft, in die ihre zahlreichen Nachkommen aufwachsen sollten.
Kaum hatte ich mich gesetzt, stutzte ich ein weiteres Mal. Ich konnte den kleinen Springbrunnen auf der Hotelterrasse hören. Kein Gebrüll, keine herumrennenden und die anderen Gäste belästigenden, weitgehend unbeaufsichtigten Kinder, wie ich das von Deutschland her gewohnt bin. Als sich eine der Mütter für einen lustigen Laut eines der Kleinen, das offensichtlich gerade etwas Schmackhaftes genascht hatte, entschuldigen zu müssen glaubte, war ich peinlich berührt. In Deutschland wäre man beschimpft und der Kinderfeindlichkeit geziehen worden, hätte man nach 10 Minuten lauten Hämmerns mit dem Löffel auf eine Porzellantasse gewagt, freundlich bei den Eltern des hämmernden Kindes um etwas Ruhe zu bitten: Das Kind sei doch bloß „lebhaft“. Ich beschloß überrascht, mir die französischen Verhältnisse genauer anzuschauen.
Die Mütter wirkten selbstbewusst, jedoch ohne dieses Selbstbewusstsein wie eine Fahne vor sich her tragen zu müssen. Den Gesprächen war zu entnehmen, dass alle selbstverständlich berufstätig waren. Die Väter pflegten in der Erziehung der Kinder eine quasi natürliche Kooperation mit den Müttern, der ebenfalls jeder demonstrative Aspekt vollkommen fehlte. Einen Morgen war die Mutter mit den Kindern früher da, das nächste Mal der Vater. Abends genehmigten sich die Paare durchaus Zeit füreinander ohne die Kleinen, ein schlechtes Gewissen war den Eltern dabei nicht anzumerken. Offenbar waren die Kinder auch mal früher ins Bett gesteckt worden und blieben dort ohne Aufsicht schlafend liegen, ohne dass seitens der Erwachsenen frühkindliche Störungen beim Nachwuchs befürchtet wurden. Das Verhalten zu den Kindern war insgesamt liebevoll-bestimmt. Als ein Kleinkind versuchte, seine Mutter mit unartikulierten Lauten zu foppen, sagte diese ruhig zu ihm, es solle doch mit richtigen Worten zu ihr sprechen, dann würde ihm auch geantwortet. Sofort wurde der korrekte Satz geformt. Die Kinder wurden von ihren Eltern mit Sicherheit ernst genommen, ohne dass der geringste Zweifel aufkommen konnte, wer das Sagen hatte. Um es nochmals zu wiederholen: die französischen Kinder wirkten dennoch keineswegs unterdrückt oder gehemmt. Zusammengefasst schien es mir, als seien Kinder für diese jungen Franzosen ein organischer Teil ihrer Selbstverwirklichung. Das kann kaum an mehr Krippenplätzen in Frankreich liegen.
Als ich mir dann deutsche Verhältnisse vor Augen führte, speziell von Familien der Mittelklasse, mit denen, die ich in Frankreich sah, vergleichbar, wurde mir schlagartig klar, dass es hier schon zu unseren nächsten Nachbarn Mentalitätsunterschiede geben muss. Jeden Tag fahre ich auf dem Weg zur Arbeit am Erasmus-Kindergarten in Frankfurt vorbei. Die wohlhabenden Eltern, meist über vierzig, parken mit ihren SUVs (Sport Utility Vehicle) mitten im Berufsverkehr rücksichtslos eine von zwei Fahrspuren zu, um ihre Sprösslinge in den Kindergarten zu bringen. Kinder sind in Deutschland ein so seltenes und kostbares Gut, dass sie als Waffe eingesetzt werden: schaut her, ich habe ein Kind, also richtet euch gefälligst nach mir! Diese kleinen Deutschen lernen mithin nicht nur frühzeitig, wie man sich gegenüber seinen Mitmenschen eigentlich nicht verhalten sollte, sie sollen auch frühzeitig drei Sprachen lernen, was ihnen „im späteren Leben vieles einfacher" machen soll. Die getrimmten Kinder dieser alten Deutschen, die sehr lange nur an ihre eigene Selbstverwirklichung gedacht haben, sind knallharte Investitionen in die Zukunft.
Unnötig zu erwähnen, dass dem elterlichen Verhalten die Ungezwungenheit fehlt, die ich in Frankreich beobachten konnte. Deutsche Mütter nehmen oft eine komplette berufliche Auszeit, weil ihnen Psychologen und Bindungsforscher sagen, den Kindern würde sonst etwas fehlen. Kaum zu glauben, dass ganze Generationen von Menschen psychisch verwahrlost aufgewachsen seien, weil ihre Mütter gearbeitet haben, aber auch heute soll eben die Welt am deutschen Wesen genesen. Wieviel an Wohlstandsverwahrlosung in diesen überprotektiven Familien heranwächst, will man sich lieber gar nicht vorstellen.
Kinder sind in Deutschland (offenbar im Gegensatz zu meinen Beobachtungen in Frankreich) eine Art kleine Erwachsene, sind als gleichberechtigte Gesprächspartner entdeckt worden, die sie ja aufgrund ihres moralischen und intellektuellen Rückstands gar nicht sein können. Es handelt sich um eine gedankliche Einbahnstrasse: Kinder müssten dann ja auch für ihr Reden und Verhalten haften, sie müssten voll straffähig sein. Wenn im Museum ein Kleinkind von einem Elternteil knapp davon abgehalten wird, ein Gemälde zu beschädigen, darf in Deutschland das Wörtchen „Bitte“ nicht fehlen: Bitte mach´ kein Loch in den Rubens. Das Wort „Bitte“ suggeriert eine sinnvolle Alternative – zum Beispiel: Mach´ bitte kein Loch, sondern einen Schlitz in die Leinwand. Zur Beschädigung des Bildes gibt es aber keine Alternative, sondern es gibt nur das Verbot, es zu beschädigen. Ein Verbot soll dem deutschen Kind aber nicht zugemutet werden. Nur keine Grenzen.
Sind es wirklich solche Albernheiten, die deutsche Kinder zu freien Menschen machen sollen? Der Deutsche hält ja auch das Rasen auf der Autobahn für Freiheit – „freie Fahrt für freie Bürger“. Oder sollen solch´ restriktionsfreie Menschen wieder den Willen zur Macht ausleben? Liegt es nur an der gemessenen Zeit, die Eltern mit ihren Kindern sind, ob Kinder glücklich aufwachsen? Kann es nicht auch an der Wahrhaftigkeit des Gefühls liegen, das Eltern für ihre Kinder hegen? In China können bereits die Deformationen beobachtet werden, die die vom Staat verordnete Ein-Kind-Familie bei den Jungen und Mädchen verursacht: alle Hoffnungen der Eltern werden auf dieses eine Kind projiziert, das diese überzogenen Erwartungen wahrscheinlich nicht als liebende Zuwendung empfindet. In Deutschland bilden sich diese Neurosen ohne staatlichen Zwang aus, sicher nicht in allen Schichten, aber in einer der maßgeblichen. Es liegt also nicht an einer falschen Politik allein, dass die deutsche Mittelstandsfamilie krankt.
In Frankreich sind die Deutschen – ganz im Gegensatz zu ihrer Selbstwahrnehmung - als irrationales Volk bekannt, als ein Volk, das immer übertreibt und häufig maßlos ist. Aus meinem Urlaub zurück, habe ich allen Anlass, diese französische Einschätzung für wahr zu halten. Die Situation der deutschen Familie ist momentan keine, die hoffen lässt. Eine Änderung der Mentalität wäre nur von innen her zu erreichen. Der Sinn von Familie, echte Selbstverwirklichung, Rücksicht auf die Mitmenschen wird in allen Kulturen religiös vermittelt. Da die Deutschen auch in ihrer Glaubenslosigkeit übertreiben, sicher eines der am meisten entgötterten Völker sind, könnte man in dieser Tatsache einen der Gründe für die beschriebene Misere vermuten. Frankreich ist zwar ein laizistischer Staat, aber den Franzosen scheint dieser sichere Halt, der einen optimistischen Blick in die Zukunft ermöglicht, nicht verloren gegangen zu sein.
© Adorján F. Kovács
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Prof. Dr. Dr. Dr. Adorján F. Kovács (Nauheim bei Rüsselsheim) ist Facharzt für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie. Er hat u.a. grundlagenwissenschaftliche und klinische Arbeiten zur Krebsdiagnostik und -behandlung im Kopf-Halsbereich durchgeführt (Forschungs- und Lehrtätigkeit am Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main), die in zahlreichen wissenschaftlichen nationalen und besonders internationalen Veröffentlichungen dokumentiert sind und zur Habilitation und Professur geführt haben. Er arbeitet daneben ebenso publizistisch und veröffentlichte u. a. im "ef-Magazin" (Eigentümlich frei).
Ein weiterer Artikel von Kovács in MEDRUM: Profiteure der Freiheit
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Leserbriefe
Diese schöne Seite habe ich
Diese schöne Seite habe ich vor einigen Tagen gefunden und viele gute Artikel gelesen, denen ich zustimme. Auch kenne und schätze ich das ef-Magazin. Mit diesem Beitrag bin ich nun überhaupt nicht einverstanden.
Vor einigen Monaten habe ich in einer Zeitschrift einen Artikel gelesen, der beweisen wollte, dass eine höhere Anzahl von Krippenplätzen zu einer höheren Geburtenrate führen würde. Natürlich wurde auch Frankreich erwähnt. Ganz unten war eine Übersicht gedruckt. Man konnte ihr die verschiedene Fakten unterschiedlicher europäischer Länder entnehmen. Frankreich hatte eine der niedrigsten Geburtenraten in Europa. Das entnahm ich der Zeitschrift "Clara", die von der Linksfraktion im Bundestag verschickt wird. (Vermutet wird schon lange, dass Statistiken, die Frankreich eine höhere Geburtenrate bescheinigen wollen, den Kinderreichtum von Migrantenfamilien mit hinein rechnen.)----- Bekannt ist mir schon lange, dass es in anderen europäischen Ländern mehr Großfamilien gibt und das diese eine andere Wertschätzung erfahren als in Deutschland, wo man viele Kinder in Familien mit niedrigem Bildungsniveau vermutet. Der Kinderreichtum einiger weniger Familie gleicht mancherorts sicher die niedrige Kinderzahl anderer Familien aus.
Nun zu einem Absatz, der mir besonders auffiel: "Wenn im Museum ein Kleinkind von einem Elternteil knapp davon abgehalten wird, ein Gemälde zu beschädigen, darf in Deutschland das Wörtchen „Bitte“ nicht fehlen: Bitte mach´ kein Loch in den Rubens. Das Wort „Bitte“ suggeriert eine sinnvolle Alternative – zum Beispiel: Mach´ bitte kein Loch, sondern einen Schlitz in die Leinwand. Zur Beschädigung des Bildes gibt es aber keine Alternative, sondern es gibt nur das Verbot, es zu beschädigen. Ein Verbot soll dem deutschen Kind aber nicht zugemutet werden. Nur keine Grenzen."
1. Eltern sollten ihre Kinder so beaufsichtigen, dass ein Kleinkind nicht nur knapp davon abgehalten wird, ein wertvolles oder auch weniger wertvolles Gemälde zu beschädigen. Ein Rubens sollte in einer Ausstellung vielleicht auch nicht ungesichert auf Bodenhöhe stehen, um von einem Kleinkind beschädigt werden zu können. :)
2. Ein "Bitte" schadet meiner Meinung nach nie! Es zeigt auch nicht, wie der Autor vermutet, eine Alternative auf. Man könnte wie Herr Kovács durch ein "Bitte" eher einen Vorschlag als ein Verbot vermuten. Aber das wäre auch nur eine von mehreren möglichen Interpretation. Ich denke, dass durch ein "Bitte" eine Aufforderung nicht gemildert wird, sondern einfach nur etwas freundlicher klingt.
Dem Artikel kann ich nicht folgen. Es mag sein, dass der Autor entspannt in einem französischen Hotel frühstücken konnte, obwohl Kinder anwesend waren. Aber schon, der Behauptung, dass jedem Besucher Frankreichs auffiele, dass französische Eltern besonders jung sein jung sein und meist mehr als zwei Kinder hätten, kann ich nicht zustimmen. Ich bin auch ein bisschen der Welt herum gekommen. Man sollte sich hüten, aus jener oder dieser erlebten Situation sofort Rückschlüsse auf die gesamt Mentalität zu schließen. In Frankreich bemühen sich sicherlich auch viele Eltern, ihren Kindern eine besonders gute Bildung jenseits öffentlicher Schulen zukommen zu lassen. Mir ist noch nicht aufgefallen, dass in Deutschland allgemein vor Privatschulen rücksichtslos in der zweiten Reihe geparkt wird. Allerdings ist mir aufgefallen, dass man in der Städteplanung häufig keine Rücksicht auf Familien nimmt - dazu gehört auch die Parkplatzsituation in der Nähe von Kitas und Schulen. Es nehmen auch nicht alle Mütter eine berufliche Auszeit, weil es ihnen von Bindungsforschern und Psychologen eingeredet wurde. Manche Mütter hören einfach auf ihr Gefühl. So ging es zum Beispiel meiner Mutter, die in der DDR der 80er Jahre bei uns am Ort eine der wenigsten war, die sich so entschieden hat. Dabei habe ich auch großen Respekt vor Müttern, die erwerbstätig sind. Es mag auch sein dass, manche Franzosen die Deutschen für irrational und maßlos halten. Das sind eben Vorurteile. Der Artikel beinhaltet auch eine Menge Klischees des Autors. Nicht alle Deutschen sind rücksichtslose Raser und halten eine hohen Tachostand für den Inbegriff von Freiheit. "Oder sollen solch´ restriktionsfreie Menschen wieder den Willen zur Macht ausleben?" - ich hoffe, dass sich das "wieder" nicht auf die Zeit von 1933 bis 1945 bezieht. Das wäre geschmacklos. Manche Änderungen der letzten Jahrzehnte in der Pädagogik waren auch Antworten auf die frühere Erziehung zum Gehorsam. Sollten manche Menschen, den Deutschen einen Hang zur Macht und Übertreibung (Größenwahn) unterstellen, so sollte uns klar sein, dass der Fehler im Auge des Betrachters liegt und wir kaum etwas tun können, um dem entgegen zu wirken. So ist das eben mit Vorurteilen.
Entweder bin ich Franzose, oder ich mache was falsch.
Ich bin mit größtem Vergnügen Sachse (ja, das ist auch Deutschland), Akademiker, jung und selbständig. Und ich bin verheiratet und habe bislang vier Kinder. Schon die Zahl bedingt eine etwas straffere und konsequente Erziehung. Und wirklich: wir kennen etliche vergleichbare Familien, deren Mitglieder nicht mal Französisch können, geschweige denn Franzosen sind. Worauf ich hinaus will: Seit UvdL sind Familien in Deutschland grundsätzlich schräg drauf - entweder zu übervorsorglich oder verwahrlosend; "richtige" Familien findet man in Frankreich, Skandinavien oder afrikanischen Dörfern, aber nicht bei uns. Das ist es doch, was uns Prof. Kovacs sagen möchte, oder? Bitte hört auf mit dieser Schwarz-Weiß-Malerei! Uns normales buntes Familienvölkchen gibt`s auch hier!
Ob man nun von einem einzigen Aufenthalt
in Frankreich gleich auf die ganze Nation schliessen kann, bezweifle ich. Was die Kinderanzahl der Franzosen betrifft, gibt es da wohl einen Unterschied zwischen Stadt- und Landbevölkerung. Dass ein Bevölkerungszuwachs zu verzeichnen ist, liegt ausserdem auch an den muslimischen Franzosen, die mit in die Statistiken einfliessen und viele Kinder haben. Die Betreuung der Säuglinge ab 4 Monaten ist ein Skandal, der auch irgendwie zu einer Art Entfremdung zw. Eltern und Kind führt, was ich in den 17 Jahren, die ich hier lebe, öfters beobachtet habe. Ich rufe in Erinnerung, dass Frankreich unter den Ländern mit der höchsten Selbstmordrate von Jugendlichen ist, die exakten Zahlen werden nicht veröffentlicht! Insgesamt finde ich, dass die Jugend sowohl in Frankreich, als auch in Deutschland in einem verwahrlosten (emotional + spirituell) und orientierungslosen Zustand ist. Näheres hier: http://wegwahrheitleben.wordpress.com/2009/08/26/der-franzos-stirbt-vorl...