Wenn ich gefragt werde, warum ich Jesus liebe,
dann ist die biblisch korrekte Antwort natürlich, dass ich ihn liebe, weil
er mich zuerst geliebt hat und weil er bereit war, alles für mich zu geben.
Ich liebe Jesus deswegen als ganze Person, nicht nur Teile oder Aspekte von
ihm, so wie ich ja auch nicht bloß mit einem besonders anziehenden Aspekt
meiner Frau verheiratet bin oder nur ihre Nase liebe, ihr Lächeln oder ihre
Geduld, sondern sie als ganze Person.
Wenn man eine Person liebt, hat man auch schnell
eine lange Liste an der Hand, was sie ganz speziell anziehend macht. Ich
liebe Jesus, weil ich ohne ihn gar nicht da wäre. Ich liebe Jesus, weil er
mich nie im Stich lässt. Ich liebe Jesus. weil, weil, weil ... Aber die Frage
ist ja wohl, ob es nicht eine ganz spezielle Sache an Jesus gibt. die mir
sofort vor Augen steht, wenn ich an ihn denke. Und tatsächlich - es gibt
sie: Ich liebe Jesus über alles, weil seine Vergebung bewirkt, dass ich
anderen nicht mehr ein geschöntes Bild von mir vermitteln muss, sondern
offen zu meinen Schwächen und Fehlern, ja, Sünden stehen kann.
Jesus nachzufolgen ist für mich vor allen Dingen
eine praktische Angelegenheit. Wenn es sich nicht in meinem Alltag in
Wissenschaft und Geschäftswelt bewährt hätte, hätte ich längst die Religion
gewechselt. Denn zur Betäubung und Ablenkung von der Wirklichkeit gibt es nun
tatsächlich bessere Mittel.
Und gerade da kommt die Vergebung der Sünden,
die Jesus bewirkt hat, ins Spiel. Ich finde es großartig, nicht ständig allen
beweisen zu müssen, dass ich fehlerlos bin. Denn solch ein vorgetäuschtes
Leben macht uns seelisch kaputt. Das ewige Basteln an den Masken und die
ständigen Vertuschungsmanöver kosten Zeit und Nerven und funktionieren am
Ende meist doch nicht.
Jesus ist am Kreuz stellvertretend für meine Sünden und Fehler
gestorben und deswegen kann ich sie ihm gegenüber ebenso eingestehen wie meiner Umwelt gegenüber. Wenn meine Fehler sowieso schon eingestanden sind, muss
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es mir doch viel
leichter fallen zuzugeben, wer ich wirklich bin, als Menschen, die ohne Jesus
leben.
Das alles verstehe ich dennoch nicht Freibrief von Jesus, extra viele
Fehler zu machen oder kräftig in puncto Sünde aufs Gas zu treten. Vergebung
räumt nämlich nicht nur mit der Vergangenheit auf. Sie gibt auch die Kraft,
tatsächlich etwas zu ändern. Diese Kraft wird nicht nur in der Bibel als
Folge der Vergebung beschrieben, sondern krempelt mich auch tatsächlich um. Bei
mir gibt es jedenfalls genug zu ändern.
Aber entscheidend ist für meine Beziehung zu Jesus, dass mein Glaube
mit meiner Selbstkritik beginnt. Darin unterscheidet er sich etwa fundamental
vom Islam, der keine echte Selbstkritik kennt, ja Selbstkritik als
Eingeständnis der Niederlage versteht. In der Bibel dagegen beginnt Glaube
mit der Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit. Und nicht zufällig
kritisiert die Bibel nicht vor allem die Ungläubigen und die böse Welt,
sondern die Gläubigen. Ganze Bücher des Alten Testamentes widmen sich dem
schonungslosen Offenlegen der Zustände unter den Juden, ganze Bücher des
Neuen Testamentes - legen die schlimme Situation in christlichen Gemeinden
bloß. Jesus macht mich frei zur Selbstkritik. Welch eine Erleichterung!
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"Prof. Dr. phil. Dr. theol. Thomas
Schirrmacher (geb. 1960) ist Rektor
des Martin Bucer Seminars (Bonn, Zürich, Innsbruck, Prag, Ankara),
wo er auch Ethik lehrt, Professor für
Religionssoziologie an der Staatlichen Universität Oradea, Rumänien,
Direktor des Internationalen
Instituts für Religionsfreiheit der Weltweiten Evangelischen
Allianz und Sprecher für
Menschenrechte dieses weltweiten Zusammenschlusses. Er promovierte 1985 in Ökumenischer Theologie in Kampen
(Niederlande), 1989 in Kulturanthropologie
in Los Angeles, und 2007 in Vergleichender
Religionswissenschaft an der Universität Bonn."
http://www.schirrmacher.info/
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