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Daniel von Wachter: Ein bemerkenswerter Unterschied zwischen Personen und Schiffen

Quellenangaben: 
In: Löffler, W. und Runggaldier, E. (Hrsg.), (1999): Vielfalt und Konvergenz der Philosophie. öbvhpt: Wien, pp. 243-247.
Autor: 
PD Dr. Dr. Daniel von Wachter, Ludwig-Maximilians-Universität München

Ein
bemerkenswerter Unterschied zwischen Personen und
Schiffen

Daniel von Wachter

Materielle Gegenstände sind
Gegenstände, die entweder Elementarteil­chen sind oder aus nichts als
Elementarteilchen bestehen. Unstrittige Bei­spiele für materielle Gegenstände sind Elektronen, Steine und Schiffe.

Ob menschliche Personen materielle Gegenstände sind, ist umstritten. Im
folgenden möchte ich aufzeigen, daß sich die uns bekannten materiellen Gegenstände von Personen darin unterscheiden, daß
sie keine eindeuti­
gen Identitätsbedingungen haben, und ich werde
erörtern, wo dieser Un­terschied herrühren kann.

Personen haben eindeutige Identitätsbedingungen

Ein Gegenstand x hat genau dann eindeutige
Identitätsbedingungen,
wenn es
für jeden Gegenstand y entweder die Tatsache gibt, daß x mit y identisch ist, oder die Tatsache, daß x nicht mit
y identisch ist. (Vgl. Lowe
(1995)) Meine Behauptung ist nun die, daß
Personen immer eindeutige Identitätsbedingungen haben, d.h., wenn man sich
zweimal auf eine Per­son bezieht und behauptet, dieser sei mit jenem identisch,
dann steht es immer eindeutig fest, ob diese Behauptung wahr oder falsch ist.

Nehmen wir an, ich würde einer
Operation unterzogen, in der meinem Schädel mein Gehirn entnommen wird und je
eine Hälfte des Gehirns in den Schädel von einem von zwei bereitliegenden
Körpern eingepflanzt wird. Die beiden Gehirnhälften werden so durch künstliche
oder fremde Gehirnteile ergänzt und mit den
Körpern verbunden, daß die beiden
Körper
lebendig aus der Operation hervorgehen. Nach der Operation
sind da also
zwei Menschen, nennen wir sie A und B, die beide je eine Hälfte meines Gehirns
in ihrem Schädel haben. Jeder von ihnen soll ein Mensch mit gewöhnlicher
Körperfunktion und gewöhnlichem Geistesle­ben sein. Wie sehr sie sich in ihrem Geistesleben
ähneln und wie sehr sie mir ähneln, soll, da es schwer voraussagbar ist, offen
gelassen werden.

Nun haben
wir uns zu fragen, welche Möglichkeiten es – für den Fall, daß
es
tatsächlich möglich ist, daß zwei Personen aus der Operation hervor­gehen – für
meinen Verbleib bei Operation gibt. Die naheliegendste und, wie ich meine, richtige Annahme ist, daß es genau
drei Möglichkeiten
gibt: 1. Ich bin weder mit A noch mit B identisch; 2.
Ich bin identisch mit A; 3. Ich bin
identisch mit B. Es ist nach der Operation eindeutig entwe­
der wahr oder
falsch, daß ich mit A identisch bin. Es kann es nicht sein, daß irgendwie
beide, A und B, an mir Anteil haben. Nehmen wir an, A wird gefoltert und B wird
belohnt. Die Annahme, daß beide, A und B, an mir
Anteil haben, brächte mit sich, daß ich ein bißchen von beiden
Schicksalen erleiden werde. Daß ich aber teilweise
der sein werde, welcher
gefoltert wird, und teilweise der, welcher
belohnt wird, ist eine wider‑

sprüchliche Annahme. (Vgl. Williams (1970), 178; Swinburne
(1986),
149f) Mein Zukunft kann sich
nicht teilen, so daß ich teilweise der eine und teilweise der andere würde.
Zwei Menschen können zwar die Kind­heit
zusammen verbracht haben, sie können aber nicht (ganz oder teil­
weise)
dasselbe Kind gewesen sein. Daran ändert sich auch nichts, wenn man Parfit ((1971), 8; (1995), 28) folgend die
umstrittene Möglichkeit
nicht so
beschreibt, daß ich teilweise mit A und teilweise mit B „iden­
tisch“ bin, sondern so, daß ich sowohl in A als
auch in B „überlebe“.
Wenn mir vor der Operation in Aussicht gestellt
wird, daß der eine gefol­tert und der andere belohnt werden wird, und ich vor
die Wahl gestellt werde, welcher Körper der
sein soll, der belohnt wird, so könnte ich
selbst, wenn ich genau wüßte,
welches Gehirnteil wo hin verpflanzt wird, und ich vollständige
neurophysiologische Kenntnisse besäße, nicht treff­sicher so entscheiden, daß
ich der Folter entgehe. Aber ich weiß, daß ich entweder keiner von beiden oder
genau einer von beiden sein werde.

Sollte
der Ausgang der Operation so sein, daß ich A bin, so ist zu erwar­ten, daß A
auch etwas von meinem Charakter und meinen Erinnerungen haben wird, während B
mir weniger ähnlich sein wird. Um zu bestreiten, daß Personen eindeutige
Identitätsbedingungen haben, konstruiert Parfit ((1970), 5) das Experiment so,
daß A und B ganz ähnliches Geistesleben haben und beide mir in Charakter und
Erinnerungen gleichen. In diesem Falle ließe sich auch nach der Operation nicht
anhand der Erinnerungen und des Charakters
herausfinden, ob ich A oder B bin. Dennoch ist es
aber widersprüchlich anzunehmen, daß ich sowohl A
als auch B bin. A
und B glichen einander wie zwei Zwillinge, die ihr
ganzes Leben genau denselben Eindrücken
ausgesetzt waren und daher dieselben Erinnerun­
gen haben, die aber
natürlich trotzdem zwei verschiedene
Personen sind. Ähnlichkeit des Geisteslebens macht Personen nicht
identisch. Ich werde entweder A oder B oder keiner von beiden sein, auch wenn A
und B (un­wahrscheinlicher Weise) ganz gleiche Erinnerungen haben.

Materielle Gegenstände haben keine eindeutigen
Identitätsbe­
dingungen

Meine
nächste These ist, daß materielle Gegenstände
keine
eindeutigen
Identitätsbedingungen haben. Hier ist die diachrone Identität von kom­plexen
materiellen Gegenständen wie z.B. Schiffen oder Computern, so­wie die diachrone
Identität von Elementarteilchen zu untersuchen.

Das klassische Beispiel für
Probleme mit der diachronen Identität kom­plexer materieller Gegenstände ist
das Problem des Schiffes des Theseus. An diesem Schiff wird eine Planke nach
der anderen erneuert bis schließ­lich alle Planken erneuert sind. Die
originalen Planken werden wieder zusammengesetzt, so daß nun zwei Schiffe
vorliegen, die beide ein gutes Recht darauf haben, mit dem Schiff des Theseus
identisch zu sein.

Es gibt
zwei Strategien, dieses Problem zu lösen. Entweder man glaubt, daß man eben
entdecken muß, welches der beiden Schiffe mit dem Schiff des Theseus identisch ist, oder aber
man leugnet, daß es objektiv feststeht,
welches der beiden Schiffe mit dem originalen Schiff des
Theseus iden­tisch ist, d.h. man leugnet, daß Gegenstände wie Schiffe
eindeutige Identi­tätsbedingungen haben. Ohne
hier dafür argumentieren zu können,
nehme ich an, daß die letztere
Strategie die richtige ist.

Vielleicht haben, obwohl komplexe
materielle Gegenstände keine eindeu­tigen Identitätsbedingungen haben,
Elementarteilchen eindeutige Identi­tätsbedingungen. Man könnte sagen, daß zwar
zusammengesetzte Gegen­stände wie Schiffe
manchmal nicht eindeutig in der Zeit identisch
verblieben, daß es aber
andere Entitäten gebe, die eindeutig in der Zeit identisch verblieben und aus
denen alle anderen materiellen Gegenstände aufgebaut seien. Das Schiff habe
zwar keine eindeutigen Identitätsbedin­gungen, aber die Atome, aus denen das
Schiff besteht, haben welche.

Das könnte zwar so sein, aber
nach dem, was uns derzeit die Physik lehrt, ist dem nicht so. Wenn z.B. von
zwei Bosonen jedes in zwei verschiede­nen Zuständen sein kann, erwartet man
vier Verteilungs­möglichkeiten.

Gemäß der Bose-Einstein-Statistik gibt es jedoch
tatsächlich nur dreie.
Das legt
die Annahme nahe, daß die Teilchen im strengen Sinne aus­tauschbar sind. Es gibt Fälle, in denen es keine
wahre Antwort auf die
Frage gibt, ob jenes Teilchen zu t2 mit jenem
Teilchen zu t1 identisch ist.

Damit erhalten wir das Ergebnis, daß keine materiellen Gegenstände ein­deutige Identitätsbedingungen haben und sich darin von Personen unter­scheiden, die, wie ich zuvor argumentiert habe, sehr wohl eindeutige Identitätsbedingungen haben.

 

Woran kann es liegen, daß Personen eindeutige
Identitätsbedin­
gungen haben?

Es stellt
sich die Frage, worin dieser Unterschied seinen Grund hat. Wor­an kann es
liegen, daß ein Gegenstand eindeutige Identitätsbedingungen hat? Meine Antwort
lautet wie folgt:

Ein Gegenstand
hat genau dann eindeutige Identitätsbedingungen, wenn
er entweder einen konkreten unteilbaren Teil oder einen
abstrakten un­teilbaren Teil hat, der selbst
eindeutige Identitätsbedingungen hat und
der entscheidend für die
Identität des Gegenstandes ist.

Wir können diesen Teil den essentiellen Teil des Gegenstandes nennen. Der Gegenstand ist immer dort, wo
dieser Teil ist. Mit einem „abstrak­
ten“ Teil
meine ich hier eine individuelle Eigenschaftsentität, die Teil des Gegenstandes
ist und ihn dadurch bestimmt. Mit einem „konkreten“ Teil meine ich hier einen
Teil des Gegenstandes, der im Prinzip von dem Ge­genstand abgetrennt werden kann und der selbst qualitativ komplex ist, d.h.
viele Eigenschaften hat. In diesem Sinne ist mein 80-Kilogramm­schwer-Sein ein abstrakter
Teil von mir, während mein linkes Bein, mein Herz und mein Gehirn konkrete
Teile von mir sind.

Jeder Mensch hat eindeutige Identitätsbedingungen, d.h.
er hat einen es­sentiellen Teil. Dieser könnte ein konkreter materieller Teil
von mir sein, z.B. meine Niere oder mein Gehirn. Doch diese sind nicht
unteilbar. Alle unteilbaren materiellen Teile von mir sind Elementarteilchen,
und die haben selbst keine eindeutigen Identitätsbedingungen. Es bleiben zwei
Möglichkeiten. Entweder ist ein abstrakter Teil von mir oder ein konkre­ter,
immaterieller Teil von mir entscheidend für meine Identität.

Behauptet
man, daß mein essentieller Teil ein abstrakter Teil von mir ist, so sagt man
damit, daß unter meinen Eigenschaften wie meinem 80- Kilogramm-schwer-Sein oder
meinem 37°C-Haben eine besondere Ei­genschaft – oder zumindest eine
eigenschaftsähnliche Entität – ist, an der es
liegt, daß ich die Person bin, die ich bin, und keine andere. Man kann
so
eine Entität als individuelles Wesen, als konstitutive Natur oder als
Haecceitas bezeichnen. Meine Haecceitas wäre eine Entität, die ungefähr in
dieselbe Kategorie zu fallen hätte wie meine Dichte von 1,1 g/cm3
oder meine individuelle Jähzornigkeit. Der traditionellen Substanzontologie zufolge wäre meine Haecceitas am ehesten als mein
individuelles
Menschsein oder auch als mein individuelles
Daniel-Wachter-Sein zu bezeichnen.
Wahrscheinlich werden heute wenige Philosophen geneigt sein, solche Haecceiten
anzunehmen. Aber selbst wenn man sie anneh­
men wollte, läge es nahe,
eine Haecceitas als etwas an eine konkrete Enti­tät Gebundenes anzusehen. Es läge nahe zu fragen, woran es ggf. liegt, daß
ein Gegenstand eine Haecceitas hat, und damit zu fragen, ob es einen konkreten Teil gibt, der entscheidend für die
Identität des Gegenstandes
ist.

Das bringt uns zur letzten zur
Verfügung stehenden Antwort auf die Fra­ge, woran es liegt, daß Personen
eindeutige Identitätsbedingungen haben. Mein
essentieller Teil könnte ein konkreter, immaterieller Teil von mir
sein. Es ist angemessen, einen solchen Teil eines
Menschen als seine „See­le“ zu bezeichnen. Die Seele eines Menschen ist ein
immaterieller Teil des
Menschen, d.h. sie ist weder ein
Elementarteilchen noch ist sie aus Ele­mentarteilchen aufgebaut. Sie ist
unteilbar, d.h. sie kann nicht teilweise in einen
Körper und teilweise in einen anderen Körper transplantiert wer­
den. Und
daß sie konkret ist, heißt, daß sie verschiedene Zustände an
nehmen
kann. Die Seele eines Menschen ist der Teil von ihm, von dem seine Identität
abhängt, und sie ist das Subjekt seiner geistigen Eigen­schaften.

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