28.10.15
Merkel kann den Schalter nicht umlegen
Österreichs Innenministerin zur Flüchtlingskrise: "Deutschland hat ... eine Migrationswelle ausgelöst, die wir bisher nicht erlebt haben." - CSU-Chef Seehofer drängt auf rasche Umsteuerung
(MEDRUM) Bundeskanzlerin Angela Merkel macht mittlerweile auf nicht wenige Beobachter, wie etwa Henryk M. Broder in seinem Artikel in der WELT vom 27.10.15 deutlich macht, keinen siegesbewussten, sondern eher zweifelnden oder ratlosen Eindruck. Die Flüchtlingsströme reißen nicht ab. Die Zahl der Brandbriefe an die Regierungschefin Deutschlands nimmt zu. Alle bisherigen Versuche, die Krise zu meistern, blieben weitgehend erfolglos, auch die politische Diskussion hat sich angesichts der Lageentwicklung und noch nicht wirksamer Lösungsmaßnahmen verschärft.
Wohin mit den Menschen?
Seit fast zwei Monaten strömen Asylsuchende aus mehreren Ländern nach Deutschland ein. Nach neuesten Zahlen sollen es alleine seit Ende September über 300.000 Personen sein, die in Deutschland bleiben wollen. Die staatlichen Instanzen sind nicht in der Lage, mit diesem Massenandrang in der österreichischen Grenzregion fertig zu werden. Das dokumentieren die Berichte über das aktuelle Geschehen: Immer wieder kommt es zum überraschenden Eintreffen von mehreren tausend Menschen an Deutschlands Grenzen, selbst in den Abendstunden, ohne Vorwarnung.
Wohin mit den vielen Menschen, die noch in der selben Nacht ein Dach über dem Kopf haben wollen? Niemand kann verantworten, sie einfach dort stehen oder auch liegen zu lassen, wo sie sich gerade befinden. Also bleibt oft nichts anderes übrig, als in Blutsturzaktionen irgendwo noch überdachte Gebäude, meist irgendeine Halle, zu finden, wo die soeben eingetroffenen Männer, Frauen und Kinder wenigstens die Nacht verbringen können. Betten werden, selbst wenn sie vorhanden wären, dann gar nicht mehr erst aufgestellt. Denn dann würde der Platz nicht reichen, um tausend Personen in der Halle nächtigen lassen zu können. Also liegen die Ankömmlinge, auch Frauen und Kinder, in großer Zahl auf dem Boden. Aber sie haben wenigstens ein Dach über dem Kopf.
Wie viele jetzt gerade gekommen sind? Woher diese Menschen stammen? Ob sie eine Bleibeperspektive haben? Das weiß in diesem Augenblick kein Mensch. Niemand ist vor Ort in der Lage bei Anbruch der Nacht auch nur an geordnetes Erfassen zu denken. Jetzt geht es den Einsatzkräften und Helfern darum, irgendwie mit der unmittelbar bevorstehenden Nacht klar zu kommen. Selbst für den nächsten Morgen können in diesen Augenblicken nur schwer durchdachte Überlegungen angestellt werden - am nächsten Morgen, an dem womöglich die nächsten zwei- oder dreitausend Asylsuchenden plötzlich auf irgendeiner grenznahen Wiese stehen. Gestern und heute waren es jeweils fast 8.000. Hauptsache, am nächsten Morgen kann wieder Platz für den kommenden Tag geschaffen werden, nachdem die Ankömmlinge vom Vortag mit Dutzenden von Bussen oder auch mit Sonderzügen zu Aufnahmeeinrichtungen in den Bundesländern transportiert worden sind.
Peter Hahne: Notstand an der Grenze
Was der massenhafte Zustrom für die Verantwortlichen vor Ort bedeutet, wurde in der ZDF-Sendung von Peter Hahne am letzten Sonntag deutlich. Hahne hatte den Landrat von Traunstein, Siegfried Walch (CSU), und Magdalena Strunz, eine Polizeiobermeisterin der bayerischen Bereitschaftspolizei, zu Gast.
Die Bereitschaftspolizistin Strunz, die zum Einsatz an der Grenze abgestellt worden ist, um bei der Aufnahme von Asylsuchenden zu unterstützen, machte deutlich, dass die Grenzen der Belastung für die Einsatzkräfte, aber auch die ehrenamtlichen Helfer erreicht sind. Die Polizistin: "Eine Vereinbarung von Familie und Privatleben mit dem Beruf ist momentan nicht möglich." Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Sie ist im Dauereinsatz in 12-Stunden-Schichten. Hinzu kommen die Zeiten für die Einsatzvorbereitung sowie für An- und Abfahrten. Der Landrat von Traunstein meinte dazu: "Was von unseren Beamten momentan verlangt wird, ist enorm. Das kann man nicht auf Dauer erwarten, das ist in keiner Weise tragbar. Und es geht nicht nur den Polizisten so, ... ich meine, den Ehrenamtlern, denen geht es ja genau so. Auch die sind am Ende ihrer Kräfte. Auch die Hauptamtler tun sich schwer, das durchzustehen. Wenn sie keinen Urlaub bekommen, wenn sie ständig Überstunden machen, wenn sie immer nur mehr arbeiten als eigentlich üblich."
Syrische Familie mit Kleinkindern die Ausnahme, 90 Prozent sind junge Männer
Hahne befragte Strunz, ob sie erkennen könne, um welche Menschen es sich handelt, die ins Land kommen. Strunz meinte, ja, das könne sie durchaus, man habe eine große Anzahl von Menschen, die von überall herkommen: "Es gibt solche und solche, welche die freundlich sind, auch zu den Polizeibeamten, und andere, da sieht man auch, wenn das angebotene Lunchpaket in den Müll wandert, vor den Augen der Einsatzkräfte. Was man auch erkennt, wenn Leute wirklich dankbar sind." Sie merke im Umgang auch den kulturellen Unterschied, manche seien kooperativer, andere weniger, und es sei nach wie vor nicht so, dass die, die ankommen, die syrische Familie mit Kleinkindern sei.
Kein realitätsgetreues Bild aus Fernsehbildern
Ein klares Bild über die Situation kann man sich aus der Fernsehberichterstattung nicht machen, gab Strunz zu verstehen. Wenn sie über ihren Einsatz in ihrem Familien- und Bekanntenkreis erzähle, erhalte sie durch die Bank die Antwort: "Ich kann mir das nicht vorstellen." Strunz: "Ich wohne zwar in Bayern, und das ist nicht allzu weit weg, aber ich glaube, jemand, der das nicht Tag für Tag über einen längeren Zeitraum so sieht, direkt vor Ort unten in den Grenzregionen, kann sich das wirklich nicht vorstellen. Fernsehbilder sind gut und recht und bunt, aber entsprechen nicht immer der Realität." Landrat Walch: "Ich kann dem nur zustimmen. Im Fernsehen werden immer die Familien mit Kindern gezeigt. In meiner Region, wir haben 1.400 Flüchtlinge, 140 davon sind Frauen, 10 %, - der Rest sind junge Männer. Ich habe die Statistik dabei, das kann man jederzeit belegen. Deswegen verwirrt es mich auch so. Wieso wird das immer so einseitig dargestellt?"
Nicht genügend Leute zu bekommen
Zur politisch umstrittenen Frage, ob es eine Obergrenze brauche, entgegnete Walch: "Aber natürlich braucht es eine Obergrenze. Auch unser Land ist nur begrenzt aufnahmefähig. Das zu verleugnen, ist schlicht und ergreifend ein Ausblenden der Realität." Hahne fragte Walch, ob es realistisch sei anzunehmen, die Grenze könne geschlossen werden. In seiner Antwort meinte der Landrat, man solle doch aufhören so zu tun, als wäre der Schutz seiner Grenze, etwas Außergewöhnliches. Zum Staat gehöre auch das Staatsgebiet und der Schutz seiner Grenzen. Wenn ein Staat seine Grenze nicht schützen könne, sei dies eine Bankrotterklärung, so Walch. Ein weiteres Problem sei, dass er zwar Leute einstellen könne und dies auch tue, aber bekomme gar nicht mehr die Leute, die er brauche, teilweise "übrigens" auch deswegen, erklärte der Landrat, weil nicht mehr jeder in diesem Bereich arbeiten wolle.
Mangel an Diskussionsbereitschaft spielt Rechtsradikalen in die Hände
Hahne hielt dem Landrat entgegen, ob dies, was er sage, nicht Futter für die Rechtsradikalen sei. Walch widersprach einer solchen Meinung. Nein, Futter für rechtsradikale Organisation sei es, wenn man die Sorgen der Menschen an den Rand dränge, wenn man ihnen sage, sie dürften ihre Sorgen nicht äußern. Je mehr man das wegwische, was die Bürger bedränge, desto mehr stärke man die Rechtsradikalen. Auch stärke es die Rechtsradikalen, wenn eine völlig legitime Diskussion aus der Mitte verbannt werde und gesagt werde, das sei alles schmuddelig, so Walch. Das zeigten auch die Reaktionen in facebook, als Boris Palmer erklärt habe, es tue ihm leid, aber es sei nicht mehr alles zu schaffen, und er gebeten habe, dies nicht als rechts abzustempeln.
Enorme Hilfsbereitschaft, aber auch Ehrenamtliche am Ende ihrer Kräfte
Die Bereitschaft zur Hilfe unterstrich Landrat Walch mit Nachdruck. Doch es dürfe nicht sein, dass eine Bestimmung, die für Menschen geschaffen worden sei, die verfolgt werden, ausgehöhlt werde und durch die "Hintertür" eine Möglichkeit geschaffen werde, in ein reicheres Land zu gehen. Walch: "Denen, die auf der Flucht vor Krieg und Vertreibung sind, denen wollen wir helfen." Die Hilfsbereitschaft vor Ort sei enorm, so Walch, der dazu erläuterte: "Die Menschen helfen uns auch Notfallkapazitäten zu schaffen, manchmal müssen wir, das wird gar nicht diskutiert, ja von heute auf morgen Notfallkapazitäten schaffen, da werden dann Turnhallen besetzt, und die Ehrenamtlichen helfen uns sowohl bei der regulären Unterbringung wie bei Notfallkapazitäten." Strunz fügte an: "Aber auch die Ehrenamtlichen sind am Ende ihrer Kräfte." Walch hob überdies hervor: "Man darf auch nicht so tun, als seien diejenigen, die helfen und diejenigen, die besorgt seien, zwei verschiedene Personengruppen. Auch aus den Helferkreisen bekomme ich sehr viele Emails, die sich sehr skeptisch, sehr besorgt äußern."
Käßmann und die Wunder
Zum Ende seiner Sendung kündigte Peter Hahne als nächsten Gesprächsgast Margot Käßmann als "Gegenprogramm" an. Hahne: "Da ist Margot Käßmann alleine da, die ehemalige Bischöfin, die einfach sagt: Die Grenzen auf, alle willkommen heißen! Sie hat in der Stadtkirche von Wittenberg, wo wir sie interviewen werden, gesagt: Jesus würde heute diese Flüchtlinge, die in unser Land kommen, an seinen Tisch einladen." Was sagen Sie dazu, fragt Hahne. Der Landrat erwidert: "Na ja, Jesus war auch in der Lage, Wunder zu wirken. Und wenn wir alle einladen wollen, brauchen wir ein Wunder. ... Es braucht Realismus. Wir müssen zur Sachlichkeit in der Diskussion zurückkommen. Diese emotionalisierten Wahrnehmungen, auf der einen Seite wie auf der anderen, bringen uns alle nicht weiter. Es braucht hier mehr denn je europäische Lösungen, wir brauchen europaweite Verteilung, es braucht aber auch einen geordneten Grenzschutz, der an den europäischen Außengrenzen funktioniert."
Merkel: "Wir können den Schalter nicht einfach umdrehen."
Wie notwendig Maßnahmen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise sind, zeigte auch eine Reportage des Magazins SPIEGEL-TV. Das TV-Magazin berichtete am 26.10.15: "Der Flüchtlingsstrom, er reißt nicht ab. Auf der Insel Lesbos kommen in dieser Woche 48.000 Menschen an. So viele wie nie zuvor." Sie werden mit einiger Verzögerung an Deutschlands Grenzen eintreffen. Auch an der Grenze Deutschlands zu Österreich wird also das hohe Aufkommen von Asylsuchenden anhalten. Es sind so viele, die - auch immer wieder unangekündigt - an der Grenze eintreffen, dass die haupt- und ehrenamtlichen Helfer es kaum schaffen werden, mit den Verhältnissen in geordneter Weise fertig zu werden. Doch wirksame Hilfe ist noch nicht in Sicht. Bei ihrer Pressekonferenz erklärte Bundeskanzlerin Merkel am Dienstag: "Wir können den Schalter nicht einfach umdrehen." Der bayerische Ministerpräsident hatte zuvor den Bund aufgefordert, für eine Begrenzung des Flüchtlingszuzugs zu sorgen und ein rasches Umsteuern verlangt. Am kommenden Wochenende hat daher Bundeskanzlerin Merkel den CSU-Chef Horst Seehofer und den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel zu einem Krisengespräch eingeladen.
Österreichs Innenministerin: Deutschland hat eine bisher nicht erlebte Migrationswelle ausgelöst
Wegen der krisenhaften Entwicklung hat sich auch die öffentlich geführte Debatte mit Österreich intensiviert. Der deutsche Innenminister, Thomas De Maiziére, hat heute beanstandet, dass Österreich eine große Zahl von Asylsuchenden zum Teil ohne Vorwarnung an der Grenze zu Deutschland absetzt. Nach Eintritt der Dunkelheit seien Flüchtlinge ohne jede Vorwarnung und ohne jegliche Versorgung an bestimmte Stellen an der deutschen Grenze gefahren worden. Der Innenminister: "Das ist nicht in Ordnung." Auch die Innenministerin Österreichs, Johanna Mikl-Leitner, bezog öffentlich Stellung zur Flüchtlingskrise. In der ZDF-heute-Sendung erklärte sie: "Es war nämlich Deutschland, das als einziges EU-Mitgliedsland Ende August dieses Jahres gesagt hat, dass Syrer in kein anderes EU-Land mehr zurückgeschickt werden. Und das hat eine Migrationswelle ausgelöst, die wir bisher nicht erlebt haben." Österreich will offenbar an der Hauptzugangsstelle des Flüchtlingsstroms von Slowenien nach Österreich in Spielfeld, wo sich beim Zustrom von 60.000 Flüchtlingen innerhalb einer Woche chaotische Verhältnisse entwickelt haben, den Zugang mit Hilfe technischer Absicherungsmaßnahmen besser kontrollieren. Aber einen Schalter, den das Land einfach umlegen kann, um den Flüchtlingszustrom zu drosseln oder zum Versiegen zu bringen, hat Österreich wohl ebenso wenig wie Angela Merkel.
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Wie MEDRUM berichtete, gibt es im Internetportal change.org zwei Petitionen, die pro und contra zur Asylpolitik der Bundeskanzlerin stehen.
Die pro-Petition zur Unterstützung einer "humanen und lösungsorientierten Flüchtlingspolitik":
→ Petitonsbrief an Angela Merkel ( zurzeit 1.134 Unterstützer)
Die contra-Petition zum "Rücktritt der Bundeskanzlerin Angela Merkel und sofortigen Neuwahl der Bundesregierung":
→ Petition an Bundestag zur Abwahl der Bundeskanzlerin Merkel (zurzeit 184.663 Unterstützer)