Die Ergebnisse machen es unumgänglich, den „Heimkinderstatus“ zu entstigmatisieren, heißt es in der Studie. Helfen könne dabei vor allem eine Offenlegung der Akten. Den Betroffenen von einst solle heute bei Bedarf therapeutische Hilfe sowie in zahlreichen Fällen materielle Unterstützung geboten werden. Auch eine weitere, nicht nur individuelle Aufarbeitung der Heimerziehung sei notwendig.
Problematische Zustände und ihre Ursachen
Die Liste an Ursachen und Gründen für das Fehlverhalten von Heimpersonal ist lang: Personalmangel und Überforderung, lange Arbeitszeiten, schlechte Entlohnung, fehlende Anerkennung, das Wegschauen der Bevölkerung und vieles mehr. Das entschuldige jedoch nicht teils drakonische Strafen und Demütigungen als „Erziehungsstil“ in vielen Heimen – etwa Essensentzug, Isolierung in „Besinnungszimmern“, das Abschneiden der Haare bis hin zu körperlicher Züchtigung und Misshandlung.
„Die Leitungen der jeweiligen Einrichtungen wie auch die kirchlichen Aufsichtsorgane haben die oft problematischen Zustände gekannt oder hätten sie zumindest genau kennen können“, so die Bochumer Forscher. In den kirchlichen Heimen gab es sowohl „Fälle eklatanten Versagens und großer Schuld“ als auch „ein überdurchschnittliches Maß an Engagement der Mitarbeitenden“. Mit Blick auf die einzelnen Handelnden sei daher stets ein sehr sorgfältig abwägendes Urteil notwendig, so die Autoren der Studie. „Die Komplexität der damaligen Verhältnisse beruhte eben auch auf dem Umstand, dass niemals nur kirchliche Träger oder staatliche Instanzen allein für das Wohl der Kinder und Jugendlichen verantwortlich waren, sondern immer beide“ – was sich aber nicht zum Vorteil der Kinder ausgewirkt habe.
Heimerziehung zwischen 1949 und 1975
Mit Ausnahme der religiösen Erziehung zeigen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen kirchlichen Heimen, Heimen in der Trägerschaft anderer Wohlfahrtsverbände oder öffentlichen Heimen. Die Studie stellt dazu fest: „Insofern spiegeln die kirchlichen Heime weithin das Maß der seinerzeit geltenden Normalität wider, was allerdings den kirchlichen Selbstanspruch deutlich unterschreitet.“ Ein zentraler Punkt ist das „staatlich-konfessionelle Arrangement“ bei der Heimerziehung – oder mit anderen Worten die Verquickung zwischen den zuständigen staatlichen Stellen und den konfessionellen Trägern und ihren Fachverbänden: „Beide Seiten profitierten von diesem Arrangement.“ Die staatlichen Stellen konnten die Kosten für die Heimplätze niedrig halten und die kirchlichen Einrichtungen konnten relativ unabhängig agieren.
„Wegen der zur Verfügung stehenden, lückenhaften Datenbasis war nur eine statistische Annäherung an den enormen Umfang des Forschungsfeldes möglich“, heißt es im Abschlussbericht. Demnach ist von insgesamt etwa 800.000 Heimkindern in der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1975 auszugehen, von denen ca. 70 bis 80 Prozent in einem katholischen oder evangelischen Heim waren – mit großen regionalen Unterschieden, da sich etwa in Bayern, Niedersachsen und NRW zwischen 85 und 90 Prozent, in Hamburg und Schleswig-Holstein jedoch nur rund 27 bzw. 37 Prozent der Minderjährigen in Einrichtungen konfessioneller Träger befanden. Vom Beginn der 1950er bis Ende der 1960er Jahre waren 55 bis 58 Prozent der konfessionellen Heime in katholischer und zwischen 42 und 45 Prozent in evangelischer Trägerschaft. Bei den verfügbaren Plätzen ergab sich eine Relation von ca. 65 in katholischen und rund 35 Prozent in evangelischen Heimen.
Pionierarbeit in drei Musterregionen
Mit ihrer Studie leisten die Forscher Pionierarbeit in Deutschland. Historische, rechtliche und pädagogische Analysen der kirchlichen Heimerziehung ergänzen sie um eine differenzierte Heimstatistik, eine „Typologie“ konfessioneller Heime und Fallstudien. Als erster Gesamtüberblick zum Thema stützen sich die Ergebnisse nicht allein auf Lokalstudien, sondern auf breite Aktenstudien und Interviews mit ehemaligen Heimkindern und Erziehenden in den „Musterregionen “ Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bayern. Die Studie wurde in einem gemeinsamen Projekt unter der Leitung der Professoren Dr. Wilhelm Damberg (Katholische Theologie / Kirchengeschichte) und Dr. Traugott Jähnichen (Evangelische Theologie / Christliche Gesellschaftslehre) von den Historikern Dr. Bernhard Frings und Dr. Uwe Kaminsky erstellt. Unterstützt wurde das Projekt durch Drittmittel der Evangelischen Kirche in Deutschland, des Diakonischen Werkes der EKD, der Deutschen Bischofskonferenz, des Deutschen Caritasverbandes und der Deutschen Ordensobernkonferenz.
Akademische Aufarbeitung reicht nicht aus
Mit dieser wichtigen Studie sei es nun erstmals möglich, ein wissenschaftlich fundiertes Gesamturteil über die Heimerziehung in konfessioneller Trägerschaft im benannten Zeitraum zu treffen, sagte der Präsident des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Dr. Hans Ulrich Anke, bei der Präsentation der Studienergebnisse in Bochum. „Mit den ersten Veröffentlichungen über die zum Teil furchtbaren Erfahrungen der Betroffenen war für uns klar, dass die Zustände in kirchlichen Heimen gründlich und schonungslos untersucht werden mussten", so Dr. Anke.
Die Studie der Ruhr-Universität Bochum zeige Missstände in Heimen und das Leid der Betroffenen in beschämender Klarheit. Zugleich seien sie so differenziert, dass auch die hohe Motivation und die positiven Absichten der meisten Erzieher und Verantwortungsträger deutlich würden, erklärten die beiden Kirchen weiter.
Der Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, P. Dr. Hans Langendörfer, verwies darauf, dass verschiedene kirchliche Einrichtungen schon länger im Kontakt mit ehemaligen Heimkindern stehen. Sie wurden darin bestärkt, diese Verbindungen zwischen und zu den ehemaligen Heimbewohnerinnen und -bewohnern zu fördern. Langendörfer hob besonders hervor, dass eine nur akademische Aufarbeitung nicht ausreiche: „Denn es geht um Menschen, denen Unrecht geschehen ist."
Entstigmatisierung und schnelle Hilfe
Die Vertreter der beiden Kirchen sprachen sich erneut für eine schnelle Hilfe für ehemalige Heimkinder aus: „Der Runde Tisch Heimerziehung hat zum Jahreswechsel konkrete Empfehlungen dazu ausgesprochen, von denen die Schaffung eines Fonds für ehemalige Heimkinder nur ein Teil ist. Die Kirchen haben von vornherein betont, dass wir uns der Verantwortung stellen und bereit sind, unseren Beitrag zu dem gemeinsamen Fonds mit dem Bund und den Ländern zu leisten", sagten Anke und Langendörfer. „Wir hoffen, dass dies in den laufenden Verhandlungen im Bund und in den Ländern ebenfalls in der zu erwartenden Klarheit ausgesprochen wird, damit die Empfehlungen rasch umgesetzt werden." Aber auch damit werde das Thema nicht abgeschlossen sein, betonten die beiden Kirchenvertreter. „Wir stehen auch weiterhin in der Verantwortung, die Praxis der Heimerziehung in den einzelnen Einrichtungen zu erforschen, das Gespräch mit den Betroffenen zu führen und sie bei ihrer Suche nach Unterlagen und ihrem Bemühen um Klärung ihrer Biografie nach Kräften zu unterstützen."
Weitere Maßnahmen zur Entstigmatisierung und Unterstützung ehemaliger Heimkinder, die bereits unternommen wurden, sind nach Langendörfer der Appell an alle kirchlichen Träger von Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, die Anliegen ehemaliger Heimkinder konstruktiv aufzugreifen, sie bei der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit zu unterstützen und ihnen insbesondere die Einsicht in sie betreffende Akten zu ermöglichen (April 2009). Außerdem habe es mehrere Gespräche des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz und des Ratsvorsitzenden der EKD mit ehemaligen Heimkindern und die Einrichtung der katholischen Hotline für ehemalige Heimkinder (gemeinsam mit dem Deutschen Caritasverband und der Deutschen Ordensobernkonferenz) im Januar 2010 gegeben.
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