Deutschland schafft sich ab von Thilo Sarrazin
Leseprobe
Einleitung
Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.
FERDINAND LASSALLE
In den wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch sehr erfolgreichen Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg wuchs in Deutschland der Stolz auf den Fleiß und die Tüchtigkeit seiner Bürger, auf den stetig steigenden Lebensstandard und den immer weiter ausgebauten Sozialstaat. Die vier größeren Wirtschaftskrisen - 1966/67, 1974/75, 1981/82 und zuletzt 2008/09 - haben diesem Stolz und dem Vertrauen in die Solidität des eigenen Wirtschafts- und Sozialmodells wenig anhaben können. Selbst die Auswirkungen der Globalisierung, die Verschiebung der Gewichte in der Welt, die Umweltbelastungen und die zu befürchtenden Folgen des Klimawandels haben den Grundoptimismus der Deutschen - auch wenn sie gerne jammern - bisher nicht nachhaltig beeinträchtigt. Dieser Grundoptimismus und die Jahrzehnte des fast ungetrübten Erfolgs haben aber die Sehschärfe der Deutschen getrübt für die Gefährdungen und Fäulnisprozesse im Innern der Gesellschaft. »Deutschland schafft sich ab?« - welch eine absurde Befürchtung, mögen viele denken, wenn sie dieses solide Land mit seinen 80 Millionen Einwohnern in der Mitte Europas betrachten: die Städte, die Industrie, die Autos, Handel und Wandel, Leben und Treiben ... Ein Land aber ist das, was es ist, durch seine Bewohner und deren lebendige geistige sowie kulturelle Traditionen. Ohne die Menschen wäre es lediglich eine geografische Bezeichnung. Die Deutschen aber schaffen sich allmählich ab. Eine Nettoreproduktionsrate von 0,7 oder weniger, wie wir sie seit 40 Jahren haben, bedeutet ja nichts anderes, als dass die Generation der Enkel jeweils halb so groß ist wie die der Großväter. Die Geburtenzahl sank in Deutschland von über 1,3 Millionen jährlich in der ersten Hälfte der sechziger Jahre auf 650 000 im Jahr 2009 ab. Geht das so weiter - und warum sollte sich etwas ändern an diesem Trend, der schon über vier Jahrzehnte anhält -, dann wird nach drei Generationen, also in 90 Jahren, die Zahl der Geburten in Deutschland bei rund 200 000 bis 250 000 liegen. Höchstens die Hälfte davon werden Nachfahren der 1965 in Deutschland lebenden Bevölkerung sein. Die Deutschen hätten sich damit quasi abgeschafft. Manche mögen dieses Schicksal als gerechte Strafe empfinden für ein Volk, in dem einst SS-Männer gezeugt wurden - nur so lässt sich die zuweilen durchscheinende klammheimliche Freude über die deutsche Bevölkerungsentwicklung erklären. Andere trösten sich damit, dass auch ein kleines Volk leben und überleben kann, und verweisen auf Dänemark mit seinen rund 5 Millionen Einwohnern. Deutschland wäre dann eben künftig ein Dänemark auf etwas größerer Fläche. Ginge das nicht auch? Was wäre daran so schlimm? Es würde vielleicht gehen, wären da nicht die qualitativen demografischen Verschiebungen jenseits der schieren Nettoreproduktionsrate sowie die Armutsmigration und der Bevölkerungsdruck über die Grenzen hinweg. Vernünftig diskutiert haben wir über die demografische Entwicklung in Deutschland in den letzten 45 Jahren nicht. Wer nicht mit im Strom der Beschwichtiger und Verharmloser schwamm, wer sich gar besorgt zeigte, er musste bald frustriert erkennen, dass er alleine stand, und nicht selten fand er sich in die völkische Ecke gestellt. Abgesehen davon befindet sich der gesellschaftliche Diskurs in Deutschland in einem merkwürdigen Widerspruch: Einerseits ist die öffentliche Diskussion geprägt von Unterhaltungslust und dem Vergnügen an Skandalisierungen, andererseits ist sie zunehmend von den Euphemismen der politischen Begrifflichkeit beherrscht:
- dass man zwar 90 Prozent der Schüler einer Jahrgangsstufe zur Hochschulreife führen kann, aber dennoch nicht einmal 10 Prozent von diesen den Anforderungen eines Mathematikstudiums gewachsen sind
- dass wir als Volk an durchschnittlicher Intelligenz verlieren, wenn die intelligenteren Frauen weniger oder gar keine Kinder zur Welt bringen
- dass der Einzelne selbst für sein Verhalten verantwortlich ist und nicht die Gesellschaft.
»Wer nicht lernt, bleibt unwissend. Wer zuviel isst, wird dick.« Solche Wahrheiten auszusprechen, gilt als politisch inkorrekt, ja als lieblos und eigentlich unmoralisch - zumindest aber ist es unklug, wenn man in politische Ämter gewählt werden möchte. Die Tendenz des politisch korrekten Diskurses geht dahin, die Menschen von der Verantwortung für ihr Verhalten weitgehend zu entlasten, indem man auf die Umstände verweist, durch die sie zu Benachteiligten oder gar zu Versagern werden:
Aus der soziologisch richtigen aber banalen Erkenntnis, dass in der Gesellschaft alles mit allem zusammenhängt, hat sich eine Tendenz entwickelt, alles auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu schieben und so den Einzelnen moralisch und weitgehend tatsächlich von der Verantwortung für sich und sein Leben zu entlasten. Wie Mehltau hat sich politische Korrektheit über die Struktur- und Steuerungsfragen der Gesellschaft gelegt und erschwert sowohl die Analyse als auch die Therapie. Welch einen Sturm der Empörung löste ich als Berliner Finanzsenator aus mit dem detaillierten Nachweis, dass man sich mit dem Betrag für Essen und Getränke in der staatlichen Grundsicherung sehr wohl gesund und abwechslungsreich ernähren kann. Übergewicht infolge falscher Ernährung ist dann aber nicht auf eine objektive Lebenslage zurückzuführen, für die der Einzelne nichts kann, sondern das Ergebnis individueller Verhaltensweisen, für die jeder selbst die Verantwortung trägt. Das aber wollten weder viele Betroffene noch die politisch Korrekten hören. Dass viele der Betroffenen sich in E-Mails und Leserbriefen empört äußerten, konnte ich verstehen, weniger, dass die sogenannten Gutmenschen über mich herfielen, als ich in einem Interview beiläufig erwähnte, dass das Tragen eines Pullovers helfen könne, Energiekosten zu sparen, da man dann weniger heizen müsse. In die Steuerung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung sollte einfließen, was man erreichen will, sowie die realistische Einschätzung tatsächlicher Wirkungszusammenhänge. Jeder, der über Gesellschaft nachdenkt oder diese mitgestalten will, agiert aber implizit oder explizit aus einem normativen Zusammenhang. Wenn er dabei die Natur des Menschen und die tatsächlichen soziologischen und psychologischen Wirkungszusammenhänge vernachlässigt oder falsch einschätzt, lebt und agiert er in einem Zerrbild. Sozialingenieure, die so verfahren, richten mehr Schaden als Nutzen an. Leider gibt es sie, und viele von ihnen schaden unserer Gesellschaft und trüben unsere Zukunftsaussichten. So wurde viel zu lange übersehen, dass die Alterung und Schrumpfung der deutschen Bevölkerung einhergeht mit qualitativen Veränderungen in deren Zusammensetzung. Über die schiere Abnahme der Bevölkerung hinaus gefährdet vor allem die kontinuierliche Zunahme der weniger Stabilen, weniger Intelligenten und weniger Tüchtigen die Zukunft Deutschlands. Dass das so ist, weshalb das so ist, und was man dagegen tun kann - davon handelt dieses Buch. Ich stütze mich in meinen Ausführungen auf empirische Erhebungen, argumentiere aber direkt und schnörkellos. Es geht mir vor allem um Klarheit und Genauigkeit, die Zeichnung ist daher kräftig, nicht unentschlossen oder krakelig. Ich habe darauf verzichtet, heikel erscheinende Sachverhalte mit Wortgirlanden zu umkränzen, mich jedoch um Sachlichkeit bemüht - die Ergebnisse sind anstößig genug. Deutschland ist, wirtschaftlich gesehen, in der Spätphase eines goldenen Zeitalters, das um 1950 begann und langsam zu Ende geht. Das Realeinkommen des einzelnen Erwerbstätigen steigt schon seit 20 Jahren nicht mehr, spätestens in 10 Jahren wird es sinken, und das wird infolge der demografischen Verschiebungen ein nachhaltiger Trend sein. Solche Prognosen scheinen nicht zu den aktuellen Exporterfolgen der deutschen Volkswirtschaft zu passen, nicht zur Exzellenzinitiative an den deutschen Universitäten und nicht zu den vielen guten Nachrichten, über die wir uns täglich freuen dürfen. Doch das nützt alles nichts, wenn wir die Grundlagen künftiger Wohlstandssteigerung aufzehren, und genau das tun wir, quantitativ und qualitativ:
Ich war lange genug Fachökonom, Spitzenbeamter und Politiker, um zu jeder meiner Thesen den besten Anwalt aller nur denkbaren Gegenthesen abzugeben. In Form von Vorlagen, Vermerken, Redeentwürfen und Aufsätzen habe ich in den letzten 35 Jahren Tausende von Seiten mit Gegenthesen gefüllt. Meine Chefs mussten politisch überleben, und ich war dazu da, ihnen dabei zu helfen. Das hatte seinen Preis: Oftmals konnten subjektiv empfundene Wahrheiten nur dosiert vorgetragen werden. Immer wieder habe ich die Erfahrung gemacht, dass es in verantwortlicher politischer Position zwar nicht unmöglich, aber sehr schwierig und auch nicht üblich ist, unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Es liegt ja durchaus ein Stück politischer Weisheit darin, sich auf lösbare Probleme und mehrheitsfähige Vorschläge zu konzentrieren. Aber das erschwert sowohl die klare Analyse als auch die passende Therapie, und wenn man nicht aufpasst, wird einem das Gehirn bis zum Verlust der Urteilskraft vernebelt. Das geht allen Spitzenpolitikern so; viele flüchten sich leider ins Seichte. Dabei besteht ein großes gesellschaftliches Bedürfnis nach ungeschminkter Wahrheit, aber wer dieses stillt, lebt politisch gefährlich und wird leicht zum Opfer der Medienmacht, die die politisch Korrekten ausüben. Von meinen 39 Berufsjahren habe ich sieben Jahre als aktiver Politiker in einem Stadtstaat, sechs Jahre als Staatssekretär in einem westdeutschen Flächenland und 16 Jahre in den unterschiedlichsten Funktionen auf verschiedenen Ebenen der Bonner Ministerialbürokratie verbracht. Erst gegen Ende meiner Amtszeit als Finanzsenator in Berlin, nachdem ich durch finanzpolitische Erfolge ein gewisses Renommee erworben hatte, habe ich auch außerhalb des ganz engen Finanzbereichs den einen oder anderen offeneren Vorstoß gewagt, etwa zum Thema Hartz IV oder zu Energiesparmaßnahmen. Trotz aller Erfahrung hat es mich sehr verblüfft, welche Resonanz es auslöst, wenn eine Person des öffentlichen Lebens elementare Lebenszusammenhänge knapp und klar auf den Punkt bringt. Und es hat mich erschreckt, welche Flut von hasserfüllten Mails ich empfing, sobald ich ganz konkret - gesunde Ernährung vom Hartz-IV-Einkommen, Pullover gegen hohe Energiekosten - vorführte, dass Eigenverantwortung und Selbstbestimmung möglich und vor allem notwendig sind. Aber es scheint, als würde die Gruppe derer, die sich aus der Verantwortung für sich selbst und für ihr eigenes Leben verabschieden möchte, immer größer. Diese Entwicklung ist keineswegs beschränkt auf bestimmte Einkommensgruppen oder gesellschaftliche Schichten, und sie ist keineswegs neu. In der Rückschau kann man nämlich einen Trend ausmachen, der sich seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kontinuierlich entwickelt hat. Die Bundesrepublik der frühen fünfziger Jahre war ein sehr modernes Staatswesen. Nach den zwei verlorenen Kriegen hatten sich katastrophale Folgen gezeigt: Die Institutionen waren zerstört, die Traditionen in Frage gestellt und die Bevölkerung durch Flucht und Vertreibung durcheinandergewirbelt. Doch die spezifischen deutschen Stärken - ein hoher Standard in Wissenschaft, Bildung und Ausbildung, eine leistungsfähige Wirtschaft und eine qualifizierte Bürokratie - waren durch die Katastrophe des Krieges und die Zerstörung der Infrastruktur erstaunlich wenig beeinträchtigt worden. Die Angehörigen der Führungsschichten und der Bürokratie waren zu 90 Prozent willige Helfer der Nazidiktatur gewesen; das wirkte sich aber keineswegs auf ihre Effizienz beim Wiederaufbau aus. Ganz und gar ungebrochen und durch die Katastrophe und die Chance zum Wiederaufbau sogar noch angestachelt waren der traditionelle deutsche Fleiß und der Hang zum Tüfteln und Verbessern. Gerade die Flüchtlinge und Vertriebenen taten sich hier hervor. Sie waren in derselben Situation wie die Auswanderer des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten, nämlich fremd und mittellos, und sie konnten nur mit besonderem Fleiß vorankommen. Und sie waren fleißig, so fleißig, dass sie den Alteingesessenen in der jungen Bundesrepublik bald kräftig Beine machten. Damit das deutsche Wirtschaftswunder möglich wurde, mussten aber noch weitere Umstände hinzukommen:
Die »soziale Marktwirtschaft« war das große Versprechen, das letztlich das ganze Volk hinter dem Wiederaufbau vereinte: Alle sollten einen fairen Anteil am gemeinsam Erwirtschafteten bekommen, alle sollten vor Hunger, Kälte und drückender Armut geschützt sein, wer arbeiten wollte, sollte auch Arbeit finden. Dieses Versprechen wurde eingelöst, und wie!
Das Staatswesen und die Gesellschaftsordnung erreichten in der Bundesrepublik um 1960 einen Legitimationsgrad und eine Akzeptanz wie niemals in den 150 Jahren zuvor und niemals danach. Die SPD hatte im Godesberger Programm 1959 die Konsequenzen daraus gezogen und Frieden mit dem zur »sozialen Marktwirtschaft« gezähmten Kapitalismus gemacht. Doch die Idylle währte nur kurz:
Globalisierung und Marktwirtschaft bedeuten letztlich, dass in allen marktwirtschaftlich verfassten Ländern, die ergänzend die nötigen öffentlichen Güter in Bildung und Infrastruktur bereitstellen, vergleichbare Arbeit auch vergleichbar entlohnt wird. Für den Ökonomen heißt das: Grenzkosten (zusätzliche Kosten der jeweils letzten produzierten Einheit) und Grenzprodukt (Zuwachs des Ertrags, der durch den Einsatz einer jeweils weiteren Einheit eines Produktionsfaktors erzielt wird) des Produktionsfaktors Arbeit tendieren in den globalisierten offenen Marktwirtschaften weltweit zur Angleichung. So wie es in der globalisierten Welt den Welteinheitszins als Grenzentlohnung des Kapitals gibt, so gibt es tendenziell auch eine einheitliche Entlohnung des Produktionsfaktors Arbeit. Es ist ganz folgerichtig, dass die realen Stundenlöhne in Deutschland - genau wie beispielsweise in den USA und in Italien - heute nicht höher sind als 1990. Sie werden auch nicht mehr steigen, bis Staaten wie China, Indien und Thailand das westliche Lohnniveau erreicht haben. Diese Entwicklung trifft Deutschland in einer Phase, in der seine Kraft aus ganz anderen Gründen erlahmt, und auch davon handelt dieses Buch. Der Keim für diese Fehlentwicklungen, die unsere Zukunft verdüstern, ist bereits in den triumphalen späten fünfziger Jahren gelegt worden. Damals begann eine Kette institutioneller Reformen, von denen jede einzelne wohlgemeint war und sicher individuell auch viel Gutes gebracht hat. Die kombinierte Wirkung dieser Reformen leitete aber einen gesellschaftlichen Substanzverzehr ein, der unsere Zukunft bedroht. Im Kern geht es um vier Themenkomplexe, die miteinander zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen:
Für mich ist es eine offene Frage, ob und inwieweit es überhaupt möglich ist, Reformen gegen strukturelle Veränderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und deren beständig sich ändernde Rahmenbedingungen durchzusetzen. Es bleibt niemals etwas so, wie es ist, und kein gesellschaftlicher Zustand ist konservierungsfähig. Andererseits ist es überhaupt nicht möglich, zu Urteilen zu kommen, Zustände zu bewerten und notwendige Veränderungen zu formulieren, wenn man sich kein eigenes normatives Bild von der Gesellschaft macht. Doch warum, so könnte man fragen, beschäftigen wir uns überhaupt mit Gedanken um die Zukunft, und was wird damit impliziert? Sollte sich nicht jede Generation mit ihren Problemen befassen und die Probleme späterer Generationen den dann Lebenden überlassen? Bei all diesen Fragen sind wir von Paradoxien, die wohl grundsätzlich nicht auflösbar sind, geradezu umzingelt: Wir gehen selbstverständlich davon aus, dass nur Individuen eine Persönlichkeit und eine Identität zukommt. Gemeinschaften, Gesellschaften, Völker dagegen, überhaupt alle sozialen Organisationsformen haben nach der herrschenden Auffassung keinen über das Individuum hinausweisenden Wert - jedenfalls nicht, wenn man die Idee einer göttlichen Weltordnung oder ein entsprechendes geschichtsphilosophisches Pendant zurückweist. Paradox nur, dass wir uns dann über die Umwelt so viele Gedanken machen. Wir nehmen als unvermeidlich hin, dass Deutschland kleiner und dümmer wird. Wir wollen nicht darüber nachdenken, geschweige denn darüber sprechen. Aber wir machen uns Gedanken über das Weltklima in 100 oder 500 Jahren. Mit Blick auf das deutsche Staatswesen ist das völlig unlogisch, denn beim gegenwärtigen demografischen Trend wird Deutschland in 100 Jahren noch 25 Millionen, in 200 Jahren noch 8 Millionen und in 300 Jahren noch 3 Millionen Einwohner haben. Warum sollte uns das Klima in 500 Jahren interessieren, wenn das deutsche Gesellschaftsprogramm auf die Abschaffung der Deutschen hinausläuft? In einer Welt ohne Gott hat der Zustand der Natur keinen Eigenwert, höchstens als Lebensumwelt der Menschen, also aus einer aus dem Individuum abgeleiteten Rechtfertigung heraus. Diese Rechtfertigung entfällt jedoch mit den Individuen selber. Tatsächlich ist es aber so, dass die meisten von uns entgegen aller Logik sozialen Organisationen gleichwohl einen über das Individuum hinausweisenden Eigenwert zusprechen: Viele Mitarbeiter lieben das Unternehmen, in dem sie jahrzehntelang gearbeitet haben, andere ihren Fußballverein, wieder andere ihre Stadt, ihr Land, ihr Volk. Dass wir diesen Entitäten einen Eigenwert zumessen, der über uns selbst hinausweist, motiviert uns, hebt uns, macht uns stolz, gibt uns Antriebskraft und lässt uns unsere eigenen kleinen Wehwehchen und größeren Leiden vergessen. Nur wenn es um Deutschland geht, haben viele eine Schere im Kopf:
Sich um Deutschland als Land der Deutschen Sorgen zu machen, gilt fast schon als politisch inkorrekt. Das erklärt die vielen Tabus und die völlig verquaste deutsche Diskussion zu Themen wie Demografie, Familienpolitik und Zuwanderung. Ich glaube, dass wir ohne einen gesunden Selbstbehauptungswillen als Nation unsere gesellschaftlichen Probleme aber nicht lösen werden. Das wirtschaftlich vereinte und außenpolitisch handlungsfähige Europa wird auch in 100 Jahren noch aus Nationalstaaten bestehen, die dezidiert polnisch, dänisch, französisch, niederländisch oder britisch sind. Nur auf dieser Ebene gibt es eine wirkliche demokratische Legitimation, und nur dort kann man die Kraft zur gesellschaftlichen Erneuerung finden - oder eben auch nicht. Die Hoffnung, der Nationalstaat werde sich in Europa auflösen, ist ein spätes Produkt deutscher Weltflucht mit durchaus ambivalenten Zügen, denn sie projiziert letztlich den Reichsgedanken auf die europäische Ebene - übrigens nicht ganz ohne historischen Bezug: Das Europa der Sechs entsprach in seinen regionalen Grenzen ziemlich genau dem Frankenreich unter Karl dem Großen. Sobald man den Lauf der Geschichte beklagt und als ungünstig empfundene Trends umkehren möchte, ist man in Gefahr, unhistorisch zu werden, der Nostalgie zu verfallen und wichtige Momente der richtigen Einflussnahme zu verpassen. Wie ein Fluss ändert sich der Strom der Geschichte beständig und kehrt niemals in sein altes Bett zurück. Doch vor der Nostalgiefalle muss sich auch jeder hüten, der Gutes bewahren will und nicht die Veränderung als solche gutheißt. Der Realist akzeptiert, dass jeder historische Zustand eine Medaille mit zwei Seiten ist: Die traditionelle Idylle des Landlebens verträgt sich nicht mit der modernen Landwirtschaft. Die Sicherheit der Tradition und eines klaren Wertekanons verträgt sich nicht mit dem Tempo des technologischen Wandels. Das Aufgehobensein in der eigenen regionalen und nationalen Besonderheit verträgt sich nicht mit vielen Folgewirkungen großer Migrationsprozesse. Nirgendwo und niemals kann man den Kuchen essen und zugleich behalten. Realismus ohne Zugaben von rückwärtsgewandter Nostalgie und nach vorne gerichtetem Gestaltungswillen ist aber ziemlich platt und banal und von Fatalismus oder Wurstigkeit kaum zu unterscheiden. Natürlich läuft man leicht Gefahr, die länger werdenden Schatten des eigenen Lebens mit der Verdüsterung der Weltperspektive zu verwechseln. Auf meine hier vorgetragenen Überlegungen trifft das wohl nicht zu, denn diese Fragen haben mich über die letzten 30 Jahre intensiv und kontinuierlich beschäftigt. Wer bestehende historische Trends beklagt und verändern will, sollte sich geschichtsphilosophisch ein wenig selbst vergewissern:
Hängt man einfach nur an vergangenen Werten und Zuständen und beklagt die persönliche Entfremdung, die der Zeitenwandel mit sich bringt? Doch es ist keineswegs so, dass jedes Unbehagen an der Richtung und den Folgen gesellschaftlichen Wandels unter den Generalverdacht rückwärtsgewandter Nostalgie fällt. Jede historische Gesellschaftsformation, wie lang sie auch immer andauern mag, besteht aus einem Set von Bedingungen, der sie überhaupt erst ermöglicht: Klimatische, geografische, technologische, kulturelle, machtpolitische und demografische Voraussetzungen müssen sich zu einem bestimmten Amalgam vermischen, damit gerade diese Gesellschaft entsteht. Wenn sich dieses Bündel von Bedingungen ändert, ändert sich auch die Gesellschaft. Mit dem technischen Fortschritt sowie der wachsenden Interaktion innerhalb von Gesellschaften und zwischen ihnen setzte mit dem Ausgang des Mittelalters eine Beschleunigung des Wandels ein. Die Existenzbedingungen gesellschaftlicher Formationen ändern sich unablässig, wenig bleibt, wie es ist. Nicht immer sind es Änderungen zum Positiven, wie die schrecklichen Verirrungen des 20. Jahrhunderts zeigen. Aber es gibt auch zähe Elemente gesellschaftlicher Stabilität, die über lange Zeiträume dem Wandel trotzen. Dazu zählen die regionalen und nationalen Eigenheiten der Völker. Es ist eben nicht dasselbe, wenn zehn Sizilianer und zehn Friesen das Gleiche tun. Solche zähen Elemente sind ferner der Einfluss der Religion, die überkommenen Gebräuche, die Bande der Familie und der Respekt vor dem Alter. Dieser Kitt wirkt stabilisierend gegen die Tendenz zur Entfremdung nicht nur des Einzelnen, sondern großer gesellschaftlicher Gruppen, ganzer Gesellschaften und ganzer Völker.Doch kommt es zu kritischen Situationen, ergeben sich ideale Voraussetzungen für politische Umstürze und kriegerische Auseinandersetzungen. Die Entfremdung ist ausgeprägter in Zeiten starken Wandels oder katastrophaler Umbrüche, wozu Kriege, Epidemien wie die mittelalterliche Pest oder Naturkatastrophen zählen. Neben den Zeiten starken Wandels gab es immer wieder Zeiten, in denen man sich über mehrere Generationen hinweg sicher aufgehoben fühlen durfte im Kreislauf einer nur von Krankheit und Tod bedrohten und scheinbar unveränderlichen, wohlgeordneten Welt. Wer in solchen Verhältnissen lebte, wähnte sich in einer natürlichen Ordnung geborgen und der besten aller Welten zugehörig, auf einem Niveau, von dem aus es nur noch bergab gehen könne. Das waren die goldenen Zeitalter, von denen immer wieder berichtet wird. Es gab viele davon, mal über zwei, mal gar über zehn Generationen andauernd - Epochen, in denen es örtlich begrenzt so schien, als stehe die Geschichte still, weil etwas Perfektes, nicht mehr Verbesserungsfähiges geschaffen war. Über Richtung und Qualität des gesellschaftlichen Wandels entscheidet neben den äußeren Anstößen, die nicht weiter beeinflussbar sind, die Mischung aus Beharrung und Veränderung. Die ganz unterschiedliche Entwicklung zwischen der britischen und der russischen Gesellschaft ist ein extremes Beispiel dafür. Beide Reiche wurden einst von Wikingerstämmen gegründet (die Waräger im Falle Russlands, die Normannen im Falle Englands), und doch nahmen sie sehr unterschiedliche Wege.
Die berühmten »goldenen Zeitalter« haben sich stets dadurch ausgezeichnet, dass ihr Fundament die jeweils richtige Mischung aus Stabilität und Elastizität aufwies, denn ohne Stabilität gibt es keine Dauer und ohne Elastizität keine Überlebensfähigkeit. Aber nichts bleibt eben, wie es ist. Gerade unter dem schönsten Baum sitzt immer schon der Wurm, der an der Wurzel nagt und später die Krone zum Welken bringt. Der späte Willy Brandt sagte einmal sehr schön: »Nichts kommt von selbst, und nur wenig ist von Dauer.« Auf ganz lange Sicht ist sowieso alles menschliche Tun vergeblich, aber hilflos den historischen Geschicken ausgeliefert sind wir auch nicht. Wie das meiste im Leben ist auch der Inhalt dieses Buch ambivalent:
Die hier beschriebenen Trends nagen an den Wurzeln von materiellem Wohlstand und gesellschaftlicher Stabilität, aber es gibt immer Ansatzpunkte, manches zum Positiven zu wenden. Man muss es nur tun!
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