08.09.09
Entscheidung in bedrohlicher Lage
Regierungserklärung der Bundeskanzlerin und Erkenntnisse über den Ablauf der Ereignisse in Kunduz
(MEDRUM) Der Luftangriff gegen zwei von den Taliban entführte Tanklastwagen am 4. September 2009 und die dabei zu Tode gekommenen Personen lösten in den vergangenen Tagen eine heftige Debatte über den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr aus. Der Deutsche Bundestag führte dazu am heutigen Tag eine Debatte. Die Bundeskanzlerin gab eine Regierungserklärung ab, in der sie eine genaue Untersuchung des Vorfalles bekräftigte, aber vorverurteilende Kritik aus dem In- und Ausland zurückwies.
Ablauf der Ereignisse
Das Bundesministerium der Verteidigung hatte bei der Bundespressekonferenz am 07.09.09 nach den bis jetzt vorliegenden Erkenntnissen folgenden Ablauf der Geschehnisse geschildert:
Donnerstag, 3. September 2009
Kurz nach 11 Uhr afghanischer Ortszeit (also etwa 10 Stunden vor Entführung der Tanklastwagen)
- Eine unbekannte Zahl von Angreifern beschießt deutsche Soldaten nordöstlich von Kundus mit Handfeuerwaffen und Panzerfäusten. Bei dem anschließenden Feuergefecht werden vier deutsche Soldaten zum Teil schwer verwundet.
21.12 Uhr afghanischer Ortszeit
- Das Provincial Reconstruction Team (PRT) Kunduz (Wiederaufbauteam Kunduz) wird aus der gemeinsamen Operationszentrale der afghanischen Sicherheitskräfte in Kunduz über die Entführung von zwei Treibstoff-Lkw durch regierungsfeindliche Kräfte südlich von Kunduz informiert. Der Fahrer einer der beiden Treibstoff-Lkw sei noch an Ort und Stelle ermordet worden (nach Angaben der Tagesschau sollen drei von vier Fahrern von den Taliban ermordet worden sein; der überlebende Fahrer soll der Polizei von 60 bis 70 Taliban-Kämpfern berichtet haben). Absicht der regierungsfeindlichen Kräfte - so die Meldung - sei es, diese Treibstoff-Lkw über eine Furt im Kunduz-Fluss in den westlich gelegenen Distrikt Charreh Darreh zu verbringen.
23.14 Uhr afghanischer Ortszeit (also zwei Stunden später)
- Die beiden stehen gebliebenen Treibstoff-Lkw werden zusammen mit einer größeren Anzahl Personen durch ein Luftfahrzeug, einen B-1B-Bomber, auf einer Sandbank in einer Furt ca. 6 km südwestlich des PRT Kunduz aufgeklärt. Die Besatzung des Luftfahrzeugs meldete, dass von etlichen - „several" - Personen Waffen getragen werden, u. a. Handwaffen AK-47 und Panzerfaust RPG. An den Kommandeur des PRT Kunduz werden Bilder übermittelt. Das Luftfahrzeug bleibt ca. 15 Minuten über dem betreffenden Raum und bricht den Einsatz anschließend wegen Luftbetankung ab.
- Zirka 20 Minuten später treffen zwei andere Luftfahrzeuge F-15 - amerikanische Flugzeuge - über dem Raum ein und übernehmen die Beobachtung. Die Lage an der Furt wird mittels eines durch diese Luftfahrzeuge bereitgestellten Live-Videos vom PRT Kunduz weiter beobachtet.
- Eine als sehr zuverlässig eingestufte afghanische Quelle des PRT Kunduz bestätigt in der Folge mehrfach ausdrücklich, dass es sich bei den Personen an den Treibstoff-Lkw ausschließlich um regierungsfeindliche Kräfte handele. Es werden die Namen von vier Taliban-Führern angegeben, die sich vor Ort befanden.
- Zuvor gab rs sehr ernst zu nehmende Warnhinweise, dass regierungsfeindliche Kräfte im Raum Kundus einen Anschlag mit einem zu einer großen Bombe umfunktionierten Lkw gegen das PRT Kunduz oder Liegenschaften der afghanischen Sicherheitsbehörden planen. Die beiden entführten Treibstoff-Lkw wären für einen Anschlag dieser Art bestens geeignet gewesen.
Freitag, 4. September 2009
01.39 Uhr afghanischer Ortszeit
- Der Kommandeur des PRT Kundus genehmigt den Luftangriff. Bei seiner Entscheidung geht er aufgrund der vorliegenden Aufklärungsergebnisse - also Live-Video, afghanische Quellen und andere Quellen, ausdrücklich davon aus, dass eine Gefährdung von unbeteiligten Zivilpersonen ausgeschlossen ist.
01.49 Uhr afghanischer Ortszeit
- Eine US-amerikanische F-15 wirft auf jeden der beiden Treibstoff-Lkw auf der Sandbank in der Mitte des Kunduz-Flusses je eine gelenkte Bombe vom Typ GBU-38, 227 Kilogramm, ab. Der Kommandeur des PRT Kunduz ist der Empfehlung der Luftfahrzeugbesatzung zum Einsatz einer deutlich schwereren Bombe - es ging dort jeweils um 907 Kilo - nicht gefolgt, um Schäden beiderseits des Flusses auszuschließen.
- Nach anschließender Überprüfung aus der Luft wird gemeldet, dass 56 Personen getötet wurden und 14 auf der Flucht nach Nordosten sind. Beide Treibstoff-Lkw sind getroffen und zerstört.
Am Vormittag
- Zur Aufklärung eingesetzte deutsche Kräfte werden unmittelbar nach Eintreffen von regierungsfeindlichen Kräften beschossen. Die Anzahl der Getöteten kann am nächsten Morgen nicht mehr verifiziert werden, da die Leichen bereits geborgen worden waren.
Im Laufe des Tages
- Zwölf männliche Verletzte, darunter ein zehnjähriger Junge, werden in das Krankenhaus in der Stadt Kunduz - zumeist mit Brandverletzungen - eingeliefert. Einer der Verletzten wurde durch die afghanische Polizei unmittelbar nach Einlieferung unter Bewachung gestellt.
Am Freitagnachmittag
- Ein ISAF-Team beginnt Voruntersuchungen in Kunduz. Das deutsche Einsatzkontingent ISAF wie auch afghanische Sicherheitsbehörden unterstützen die Voruntersuchung.
Samstag, 5. September 2009
- General McChrystal, ISAF-Kommandeur, verschafft sich selbst ein Bild der Lage vor Ort.
- Zehn Minuten, nachdem McChrystal den Ort verlassen hatte, schlagen Mörsergranaten in einem Ort der Umgebung ein.
- Bei einem weiteren Angriff der Taliban werden fünf Bundeswehrsoldaten verwundet.
Sonntag, 6. September 2009
- Die afghanische offizielle Provinz Kunduz, der Gouverneur, Vorsitzender des Provinzrates, der Geheimdienstchef, der Chef der Polizei und der Kommandeur der zweiten ANA-Brigade stellen mit einem Schreiben an den amtierenden Staatspräsident Karsai fest, dass bei dem Luftangriff am 4. September ausschließlich regierungsfeindliche Kräfte getötet worden seien. Es wird weiter darauf hingewiesen, dass die Taliban einen der Fahrer ermordet hätten, und dass viele bewaffnete Taliban um die Lastwägen versammelt gewesen seien. Zitat: „Durch die Explosion wurden 56 bewaffnete Personen getötet und zwölf Personen verletzt."
Merkel weist Vorverurteilungen zurück
In ihrer heutigen Regierungserklärung stellte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel unverändert - wie auch Außenminister Steinmeier - hinter die Notwendigkeit des Afghanistan-Einsatzes. Sie wies die Kritik von Nato-Verbündeten an dem von der Bundeswehr befohlenen Luftangriff in Afghanistan zurück. Solange die Ereignisse nicht vollständig aufgeklärt seien, seien Vorverurteilungen nicht zu akzeptieren. Angela Merkel: "Ich verbitte mir so etwas, und zwar im Inland genauso wie im Ausland", sagte Merkel am Dienstag in einer Regierungserklärung. Zugleich drückte sie ihr Mitgefühl für unschuldige Opfer aus: "Jeder in Afghanistan unschuldig zu Tode gekommene Mensch ist einer zu viel", sagte Merkel: "Wir trauern um jeden einzelnen." Merkel versprach, dass bei der Aufklärung nichts beschönigt werde.
Vor der Regierungserklärung hatte Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) die Obleute des Verteidigungsausschusses über den von Deutschland angeordneten Bombenangriff nahe Kunduz informiert. Spiegel Online berichtet unter Bezug auf Teilnehmerkreise, Jung hätte dabei erläutert, dass sich im Lager Kunduz nicht genügend Bundeswehr-Soldaten befunden hätten, um zum Kampf gegen die LKw-Entführer auszurücken.
Tagesschau: Was geschah wirklich beim Luftangriff in Kundus?
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Leserbriefe
Grundsatzentscheidungen o.kluges Geschwätz aus d. sicherenEuropa
Wer Berichte über die Lage in Afghanistan verfolgt stellt fest, daß die Fronten nicht so eindeutig verlaufen, wie das militärische Planspiele auf dem Papier beschreiben.- Die unsichere Gemengelage zwischen Freund und Feind, Verdächtigem und Unverdächtigem zu unterscheiden, hat nicht zuletzt mit der Art des Umganges des "Friedensbringers" Amerika auf fremdem Boden zu tun. Die Wahrnehmung der fremden Truppen im eigenen Land als "Elefant im Porzellanladen", hat die anfänglich entgegengebrachte Sympathie versiegen lassen und die Ablehnung geht quer durch das Land, beschränkt sich eben nicht auf das "Feindbild Taliban".- Lange Überlegungen für militärische Entscheidungen bedeuten oft zu spät zu reagieren und das eigene Leben auf´s Spiel zu setzen. Kluges Geschwätz aus dem sicheren Europa über unüberlegtes, vorschnelles oder leichtfertiges militärisches Handeln, wird der konkreten täglichen Bedrohungssituation vor Ort nicht gerecht. Auf Befehlshaber und Soldaten verbal einzuschlagen ist nicht der entscheidende Punkt. Zu klären sein wird in nicht allzu ferner Zukunft, ob die Parole: Deutschlands Freiheit wird auch am Hindukusch verteidigt!- der deutschen Bevölkerung angesichts der immer chaotischeren Lage am Einsatzort noch glaubhaft vermittelbar ist und ob die ursprünglichen Ziele und Vorhaben nach Einschätzung der Lage noch realistisch und zu verwirklichen sind.