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Aussagen des Deutschen Ethikrates zum menschlichen Leben


Aussagen des Deutschen Ethikrates zum menschlichen Leben

aus dem Jahr 2001

„... besteht zwar Einigkeit darüber, dass der Schutz menschlichen Lebens ein vorrangiges moralisches und verfas­sungsrechtliches Gebot darstellt; Uneinigkeit herrscht aber über die Reichweite des Schutzanspruchs, der menschlichem Leben während seiner frühen embryonalen Entwicklung zukommen sollte. ...“

„Entscheidende Bezugspunkte sind die Unantastbarkeit der Menschenwürde und die grundlegende Bedeutung des Lebens­schutzes. Auch wenn im Nationalen Ethikrat, nicht anders als in Gesellschaft und Politik, die Meinungen darüber auseinander gehen, ob der Embryo im frühesten Stadium Träger der Men­schenwürde ist und welche Konsequenzen für seinen Anspruch auf Lebensschutz daraus zu ziehen sind, besteht jedoch Einig­keit darüber, dass die Würde des Menschen verbietet, Embryo­nen vor der Nidation

[1]

für beliebige Zwecke zu verwenden.“

„Denn die Stammzellgewinnung erfolgt in den ersten Tagen nach der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, also vor dem Zeitpunkt, zu dem bei ungestörter natürlicher Entwicklung die Einnistung in die Gebärmutterschleimhaut (Nidation) beginnt. Aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG lässt sich weder ein Würdeschutz noch ein »absoluter« Lebensschutz dieses frühen embryonalen Lebens ableiten. Die gegenteilige Auffassung vermengt nicht allein die Gewährleistungsgehalte beider Normen; sie übergeht insbesondere auch die zentrale Frage nach der Rechtsträgerschaft, also den Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um in vollem Umfang am Lebens- oder auch Würdeschutz teilzuhaben.“

„Insgesamt zeigt sich, dass dem Grundgesetz das Konzept ei­nes individuellen Grundrechtsschutzes und der allgemeinen Rechtsordnung das Konzept eines vorgeburtlich abgestuften Le­bensschutzes zugrunde liegt, das im Einklang mit begründeten ethischen Überzeugungen und unseren moralischen Intuitio­nen steht.“

„Für eine entsprechende normative Betrach­tung zum Beginn des Lebens ist konstitutiv, dass sowohl unse­ren ethischen Grundüberzeugungen als auch den einschlägigen Rechtsregeln Stufungen der moralischen Wertung und des rechtlichen Schutzes zugrunde liegen, die den Phasen der Ent­wicklung menschlichen Lebens entsprechen. In allen entwi­ckelten Rechtsordnungen wird die Tötung eines geborenen Menschen stärker bestraft als die eines Ungeborenen. Ein sie­ben Monate alter Fötus genießt stärkeren rechtlichen Schutz und größeren moralischen Respekt als ein Embryo drei Wochen nach der Nidation. Mit der Geburt wird der moralische Respekt unbedingt, und das Lebensrecht lässt dann Abwägungen und Differenzierungen grundsätzlich nicht mehr zu.“

Für die hier zu betrachtende Entwicklungsphase noch vor der Nidationsfähigkeit gilt, dass wir es dabei zwar mit artspezifi­schem menschlichen Leben (human life), noch nicht aber mit individuellem und personalem Leben (human being) zu tun ha­ben. Bis zur Ausbildung des so genannten Primitivstreifens (12.–14. Tag nach der Befruchtung) besteht die Möglichkeit der Mehrlingsbildung eines jeden so definierten Embryos. Zumin­dest bis zu diesem Zeitpunkt hat sich noch kein individueller Mensch entwickelt, der allein als Träger von Grundrechten in Betracht kommt. Dem lässt sich nicht überzeugend das so genannte Poten­zialitätsargument entgegenhalten, wonach die in der embryo­nalen Frühform angelegte Möglichkeit, zu einem Menschen heranzuwachsen, genügen soll, um diese unter den vollen Schutz des Lebensrechts zu stellen. Das Potenzialitätsargument mag zwar ausreichen, um einen »besonderen« Status des Emb­ryos zu rechtfertigen, kann aber nicht einen moralischen und rechtlichen Status begründen, der mit dem eines Fötus oder ge­borenen Menschen vergleichbar wäre. dass mit der Festlegung des genetischen Programms diese Früh­form embryonalen Lebens bereits in rechtsethisch entscheiden­der Weise mit dem geborenen Menschen, zu dem sie sich entwickeln könnte, identisch ist. Diese These würde verkennen, dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner Gene und dass seine Identität sich nicht im Vollzug seines genetischen Pro­gramms erschöpft: Auch eineiige Zwillinge sind genetisch iden­tisch, ohne dieselbe personale Identität zu besitzen.“

„In der ethischen Diskussion wird weiter vertreten, schon der frühe Embryo sei aufgrund seiner Gottesebenbildlichkeit eben­so zu schützen wie der geborene Mensch. Doch beruht diese Sicht auf religiösen Glaubenssätzen über Schöpfung und Schöp­ferwillen, die zwar Respekt und Achtung verdienen, aber nicht das Fundament einer allgemeinverbindlichen säkularen Moral und entsprechender Rechtsregelungen bilden können.“

„Schließlich leuchtet auch das Argument nicht ein, die Ver­schmelzung von Ei- und Samenzelle sei der einzige willkürfrei zu bestimmende Einschnitt in einem ansonsten kontinuierlich ablaufenden Prozess der Entstehung menschlichen Lebens. Von zumindest gleicher, wenn nicht höherer Evidenz ist etwa die Nidation, die aus dem Embryo erst eine »Leibesfrucht« macht und unabdingbare Voraussetzung seiner weiteren Ent­wicklung ist. Setzt man die Zäsur für den Lebensschutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hier, so cum grano salis zu einem Zeitpunkt, an dem aus artspezifischem menschlichen Leben ein biologisch individualisierter Embryo geworden ist.“

„Doch selbst wenn man den grundgesetzlichen Lebensschutz bereits mit dem Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnen lässt, schließt dies nicht aus, dass der Gesetzgeber einen abgestuften vorgeburtlichen Lebensschutz auf den Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG stützt. Im einen wie im anderen Fall nimmt man eine jener vielen Stufungen vor, die verbreiteter moralischer Empfindung und ethischer Beurteilung entsprechen und die in allen Rechtsordnungen etwas ganz Selbstver­ständliches sind. An solchen Stufungen ist auch die bundes­deutsche Rechtsordnung reich, wie dies nicht zuletzt die den Schwangerschaftsabbruch regelnden Normen (insbesondere die Dreimonatsfrist für den Abbruch nach erfolgter Beratung) und die Zulässigkeit des Gebrauchs von so genannten Nida­tionshemmern (Spirale) zum Ausdruck bringen.“

„Postuliert man hingegen für Embryonen in vitro den gleichen Lebens- und Würdeschutz wie für geborene Menschen, so zieht das schwerwiegende und nicht zu rechtfertigende rechtliche Wertungswidersprüche nach sich. Denn nach dem derzeit gel­tenden und verfassungsrechtlich unumstrittenen Recht ist die Verwendung nidationshemmender Mittel, die befruchtete Ei­zellen an der Einnistung hindern und somit Embryonen ab­töten, uneingeschränkt möglich. Dieser Befund wird auch nicht dadurch infrage gestellt, dass die Nidationshemmer vielleicht in vielen Fällen schon die Befruchtung verhindern. Der Gesetz­geber ging seit jeher davon aus, dass die Nidation gehemmt wird, und hat dies ebenso für zulässig erklärt wie das Bundesverfas­sungsgericht in seiner einschlägigen Judikatur.“



[1]

Mit Nidation wird die Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutterschleimhaut bezeichnet.