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System Kentler: Kindesmissbrauch mit staatlicher Hilfe


12.07.20

System Kentler: Kindesmissbrauch mit staatlicher Hilfe

Studie der Universtität Hildesheim demaskiert das Versagen im Umgang mit Kentler's perfider, auf Kindesmissbrauch angelegter Sexual- und Reformpädagogik

von Andreas Späth

(MEDRUM) Endlich nimmt die Öffentlichkeit Notiz von einigen der Opfer des mittlerweile verstorbenen Helmut Kentler. Endlich wird von Opfern gesprochen, endlich von Verbrechen und nicht mehr von „Pädagogik“. Zu verdanken ist dies jetzt einer Studie der Universität Hildesheim, die von der Berliner Senatsverwaltung gefördert wurde.

"Kindeswohlgefährdung in staatlicher Verantwortung"

Die Universität Hildesheim konfrontiert die Öffentlichkeit unter der Überschrift Ergebnisbericht „Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe“ mit den Erkenntnissen einer Studie, die sich mit dem Wirken Professors für Sozialpädagogik Helmut Kentler in Berlin zugunsten pädophiler Täter befasst hat (Bild links). Die Autoren dieser Studie belegen Erschütterndes über einen Mann, der lange Zeit als pädagogische Lichtgestalt hofiert wurde. Nahezu unvorstellbar ist: Noch bis in die frühen 2000er Jahre hinein wurden Kinder und Jugendliche von „Pflegevätern“ missbraucht, die mit Kentlers Arbeit zusammenhingen. Zwei Kinder waren erst sechs Jahre alt, als sie 1989 und 1991 ihrem Peiniger ausgeliefert wurden. Die Autoren sprechen mit fast schmerzhafter Sachlichkeit von „Kindeswohlgefährdung in staatlicher Verantwortung“. Die Behörden hatten also im Rahmen von Kentlers System weiterhin Pädokriminellen die Kinder zugeführt. Meldungen eines Opfers an das zuständige Berliner Bezirksamt blieben ohne Folgen. Die Ermöglichungskreisläufe funktionierten – auch nach­dem ihr Konstrukteur Kentler auf eine Professur nach Hannover berufen worden war.

Das perfide System Kentler

Kentler beschrieb bereits vor 31 Jahren in seinem Buch „Leihväter - Kinder brauchen Väter“, wie er „verwahrloste“ und „schwachsinnige“ Jugendliche bei Männern als Pflegevätern unterbrachte, die wegen sexuellen Missbrauchs an Jungen vorbestraft waren. In der Situationsbeschreibung verklärte Kentler die Aufnahme der Jugendlichen geradezu zu Werken der Barmherzigkeit. Dass die „Pflegeväter“ die Jungen sexuell missbrauchten, war Kentler ebenso bekannt wie die strafrechtliche Relevanz. Das störte den homosexuellen Verfechter der generationenübergreifenden Sexualität und alleinerziehenden „Vater“ dreier (Adoptiv-)Söhne nicht nur nicht – sondern er vertrat dies sogar dreist als nützliches pädagogisches Konzept. Diese Fakten sind seit 1989 öffentlich bekannt. Kentler schrieb sie – und das ist unfassbar – in ein Gutachten für die damalige Berliner Senatorin für Jugend und Familie, Cornelia Schmalz-Jacobsen. Im Berliner Senat hätte dieses Gutachten, im Grunde eine Art Selbstanzeige in Sachen Beihilfe zum Missbrauch, sofortige Ermittlungen zur Folge haben müssen. Man hätte mindestens die von ihm miteingerichteten Pflegestellen auf die geschilderten Muster überprüfen müssen. So manches Kind hätte gerettet werden können. Doch nichts von alledem war geschehen.

Wann beginnt Bremen mit der Aufarbeitung des Kentler-Netzwerkes?

Der von der Universität Hildesheim im Juni 2020 veröffentlichte Bericht spricht geradezu von einem „Netzwerk von Akteuren“. Es sei hier „keine pädagogische Idee der Reform, sondern sexueller Kindesmissbrauch“ sowohl „angestrebt” als auch „realisiert“ worden. Das Netzwerk war nicht auf Berlin, dessen Senatsverwaltung wenigstens punktuell mit der Aufarbeitung begonnen hat, beschränkt. 1989 berichtet Kentler in seinem Buch "Leihväter ..." von seiner Arbeit in Bremen. Dort sei eine Jugendamtsmitarbeiterin abgestellt worden, die – man lese und staune – „von jeder Auskunftspflicht gegenüber ihrer Behörde entbunden“ war. Da stellt sich die Frage: Wann gedenkt eigentlich die Politik in Bremen zu reagieren und damit zu beginnen, die Kentler-Netzwerke aufzuarbeiten?

Politische Prominenz im Dunstkreis propädophilen Gedankenguts

Kentler hatte zudem mächtige Freunde in Politik und Kirche. Der Begriff Netzwerk soll nicht nahelegen, jede Kontaktperson sei
selbst in diese Machenschaften verstrickt. Aber das Renommee etwa eines Spitzenpolitikers war schon als solches geeignet, eventuellen Kritikern die Stimme zu nehmen. Kentler und seinen Kollegen mangelte es nicht an Kontakten zu politischer Prominenz. Man vergleiche nur die Liste des Beirates der Humanistischen Union von 2010, auf der der 2008 verstorbene Kentler weitergeführt wurde. Manche Beiräte waren wie Kentler (ehemalige) Mitglieder der „Arbeitsgemeinschaft
Humane Sexualität” (AHS). In deren „Positionspapier Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen“ (1998/99) stehen verstörende Sätze wie diese: „Auch pädophile Kontakte gehören zu solchen Handlungen, die trotz Ungleichheit der Partner gleichberechtigt und einvernehmlich gestaltet werden können.“ und „Sind beide Seiten [das Kind und der Erwachsene] dazu bereit, können dabei auch Erotik und Sexualität eine Rolle spielen.“ Die „Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität” hatte zeitweilig eine „Fachgruppe Pädophilie“ (kurz: AG-Pädo), zu deren Zielen es gehörte, die „Akzeptanz einvernehmlicher Sexualität zu erreichen, unabhängig vom Alter oder Altersunterschied […] der Beteiligten“. Zum AHS-Kuratorium gehörten u. a. der Soziologe Prof. Rüdiger Lautmann, der Kriminologe Prof. Fritz Sack, der Psychologe und Erziehungswissenschaftler Prof. Walter Bärsch (1914–1996) – sinnigerweise langjähriger Präsident des Kinderschutzbundes –, aber auch die Ikonen der niederländischen Pädophilenbewegung Frits Bernard (1929–2006) und Theo Sandfort sowie neben Kentler auch der Filmproduzent Oswald Kolle (1928–2010).

Sack, Lautmann und Kentler saßen auch im Beirat der Humanistischen Union. Dort waren 2010 auch Hartmut von
Hentig, der Lebensgefährte des berüchtigten Schulleiters der Odenwaldschule Gerold Becker (1936–2010), der zahlreiche Schüler missbrauchte und 1998 zur Kammer der EKD für Bildung und Erziehung gehörte, als Mitglied genannt. Daneben auch Renate Künast, Claudia Roth, Burkhard Hirsch, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Heidemarie Wieczorek-Zeul. Es ist erstaunlich, wie gering hier die Berührungsängste von hochrangigen Politikern zu Vertretern propädophiler Gruppen waren. In einem Nachruf auf Kentler wurde sogar formuliert: "Ein Leuchtturm unseres Beirats ist erloschen."

Mitverantwortung der evangelischen Kirche

Mindestens genauso schlimm ist die Nähe Kentlers zur evangelischen Kirche. Er sprach unter anderem auf mehreren Deutschen Evangelischen Kirchentagen, etwa 1989 in Berlin, 1987 in Frankfurt am Main, 1985 in Düsseldorf und 1979 in Nürnberg. Er sprach und arbeitete auch an verschiedenen Evangelischen Akademien, darunter Bad Boll, Tutzing und Arnoldshain (heute: Evangelische Akademie Frankfurt). In Arnoldshain war er von 1960 von 1962 Jugendbildungsreferent. Zudem war er mehrere Jahre im Studienzentrum für evangelische Jugendarbeit Josefstal (Schliersee) tätig. Kentler trat für die Sexualisierung der Sprache ein. Die Säkularisierung kirchlicher Jugendarbeit ist auch sein unseliges „Verdienst“.

Als Kentler 2008 starb, veröffentlichten die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend (aej) und das Studienzentrum Josefstal einen irritierend freundlichen Nachruf. Die Kirchliche Sammlung um Bibel und Bekenntnis in Bayern (KSBB) beantragte schon 2010 einen Synodalbeschluss zur Löschung des verharmlosenden Nachrufes bei aej und Josefstal sowie zur wirksamen Distanzierung von Kentler und dessen Untaten. Das schlimme Geschehen war bereits in dem von Menno Aden und dem Autor dieses Artikels 2010 herausgegebenen Buch "Die missbrauchte Republik" umfassend aufgezeigt (Bild unten). Der zuständige Oberkirchenrat im Landeskirchenamt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern schrieb jedoch in seiner Stellungnahme an die Synode mit vornehmem Desinteresse, dass die aej, Josefstal und KSBB selbstständige Einrichtungen seien und die Sache untereinander klären sollten. Dass die aej und Josefstal jahrelang direkt und indirekt von der Kirche mitfinanziert wurden, schien da nicht von Belang.

Ähnlich herausfordernd war auch die Stellungnahme des 1. Vorsitzenden und früheren Oberkirchenrates Wilfried Beyhl und des Leiters des Studienzentrums und früheren Landesjugendpfarrers Rainer Brandt. Man zählte u. a. die Verdienste Kentlers im Bereich der „ehrenamtlichen Beratungstätigkeit in der Freizeitarbeit mit behinderten Menschen und deren Eltern“ auf – eine besonders wehrlose Personengruppe, aus deren Reihen Kentler (wie schon damals bekannt war) einige seiner Opfer gewählt hatte. Der KSBB-Antrag wurde dann wenig sachgerecht kommentiert, und man wies darauf hin, dass sich Josefstal dem von der Landesjugendkammer 2003 beschlossenen Verhaltenskodex für Mitarbeiter verpflichtet wisse. Immerhin legte der Landessynodalausschuss „dem Landeskirchenrat und dem Studienzentrum Josefstal nahe, [...] gegebenenfalls eine Bereinigung vorzunehmen.“ Dies geschah.

Wann beginnt die Evangelische Kirche mit der Aufarbeitung?

In Berlin,  so scheint es, sollen die Verbrechen Kentlers aufgearbeitet werden. Doch noch fehlt es nicht nur in Bremen, sondern auch in der evangelischen Kirche an ausreichender Bereitschaft, aufzuklären und Mitverantwortung zu übernehmen. Die Distanzierung von Kentler fehlt ebenso wie eine Studie zum Wirken Kentlers in Josefstal, die z. B. darüber aufklärt, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang es hier zu Missbrauch bzw. Anstiftung und/oder Verharmlosung desselben kam. Wann richten Landeskirchen und EKD endlich einen Untersuchungsausschuss ein?

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Der Artikel wurde von der evangelischen Nachrichtenagentur idea in einer Erstfassung unter der Überschrift "Kentler: Kindesmissbrauch in staatlicher Verantwortung" in der Zeitschrift ideaSpektrum 26/2020 veröffentlicht.

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Zum Buch "Die missbrauchte Republik"

Der evangelische Pfarrer und Religionslehrer Rolf-Alexander Thieke stellte in einem Kommentar zu diesem Buch fest:

Selbst lebenserfahrenen Lesern stockt neu der Atem, wenn sie anhand dieser Zusammenschau sehen, welche kulturell-ideologischen und politischen Kräfte seit Jahrzehnten am Missbrauch von Kindern und Jugendlichen - sei es einfühlsam" oder rücksichtslos - mitgewirkt und ihn interessengeleitet und zielstrebig auf den Weg gebracht haben. Nicht zuletzt die Schlussbetrachtung des Philosophen Prof. Dr. Harald Seubert zeigt: hier wurde nicht ein journalistischer Schnellschuss, sondern ein wertvolles Sachbuch von bleibendem Wert und mit politisch relevanten Grundaussagen publiziert.

Der Band ist eine Pflichtlektüre und ein herausfordernd-erschütterndes Vademecum" für Verantwortungsträger aller Art, die mit Jugendlichen und Erwachsenen im Erziehungsbereich zu tun haben. Nicht nur Eltern und Lehrer, sondern auch reife Jugendliche (Oberstufen-Alter) dürften von dieser Publikation profitieren. Der Band könnte ein Dauerbrenner werden, wenn sich viele Menschen aufraffen und bereit werden, sich unangenehmen Realitäten zu stellen.

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Buchvorstellung: "Die missbrauchte Republik"

Bestellmöglichkeit (versand- und portokostenfrei):

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