28.12.13
Rohrmosers Plädoyer für eine christliche Religionsphilosophie und Kulturwende
Kann die Moderne das Christentum überleben? Oder: Kann die Moderne ohne das Christentum überleben?
Eine Buchbesprechnung von Armin Sierszyn
(MEDRUM) Im noch jungen 21. Jahrhundert führt uns ein politischer Islam vor Augen, wie unzureichend im Grunde eine rein sozialtechnologische Gesellschaftstheorie daherkommt. Günter Rohrmoser aktualisiert das Thema durch die doppelte Frage: Kann die Moderne das Christentum überleben? Oder: Kann die Moderne ohne das Christentum überleben?
Konfrontation von Religion und Moderne
Das von Harald Seubert herausgegebene Buch (Bild links, Umschlagseite) basiert auf einer Vorlesung, die Günter Rohrmoser im Wintersemester 1996/1997 in freier Rede gehalten hat. Das Werk geht zwei ausgeprägten Formen der Konfrontation von Religion und Moderne nach: Nietzsches Kampf mit dem Christentum und dem Postulat von Ernst Troeltsch betreffend die Selbstauflösung des Christentums in die Moderne.
Kultur und Dekadenz
Nietzsches Rede vom Tod Gottes meint die Abwesenheit Gottes im Alltag des modernen bürgerlichen Menschen. Zwar ist das Christentum nicht schlechthin tot; von der biblischen Heilsgeschichte abgehobene „christliche" Moral und Werte sind sehr wohl präsent. Doch diese Überbleibsel, allem voran ein unerträglicher Egalitätswahn, führen zu atomisierter Gesellschaft, Sozialismus und Anarchie. Das Christentum in seiner paulinischen Gestalt beraubt gemäss Nietzsche den Menschen seiner Vitalität und Kraft. Es ist eine realitätsverneinende, nihilistische und dekadente Religion. Jesus war der einzige Christ, für uns ein reines Symbol der Verklärung. Aus Schopenhauers Nihilismus ausbrechend, plädiert er für neue Weltbejahung und Selbstbehauptung. Aufgrund von Dekadenz und Realitätsverleugnung prognostiziert Nietzsche die Heraufkunft des Nihilismus. Dekadent wird für Nietzsche, dessen „Antichrist" Rohrmoser letztlich zur christlichen Tradition zählt, ein Mensch oder eine Kultur, denen der Instinkt für ihre Selbstbehauptung verlorengeht und die sich gegen das entscheiden, was für die eigene Erhaltung nötig ist. Dekadente Menschen haben nicht mehr die Kraft zu wollen, ihre Person befindet sich in einem Prozess der Auflösung. Nietzsches Wille zur Macht vermag freilich keinen Weg zur Überwindung der Dekadenz zu zeigen. Anderseits verweist Rohrmoser auf eine gewisse Aktualität von Nietzsches Dekadenz-Definition. Dekadenz ist die eigenartige Erfahrung, dass eine Kultur beginnt, ihre eigenen Voraussetzungen gegen sich selbst zu wenden. Die Stärke einer Kultur bemisst sich durchaus daran, wie viel Dekadenz sie erträgt. Ist das erträgliche Mass an Dekadenz überschritten, so meldet sich der Faschismus mit dem Ziel, diese durch Aufladung der „Nation" zu überwinden. Will man die Rückkehr des Faschismus bekämpfen, muss man die Dekadenz überwinden.
Mutation zur Sozialreligion
Durch die Eliminierung von Sünde (peccatum originale), Gesetz und Gericht durch die Aufklärung nimmt das Christentum als Erlösungsreligion ein Ende. Es mutiert zur innerweltlichen Versöhnungs-, Befreiungs- und Sozialreligion. Parallel dazu wächst in der Gesellschaft die Tendenz zur Tribunalisierung der Wirklichkeit. Menschen sitzen über Menschen zu Gericht. Überall werden Schuldige für Fehlentwicklungen gesucht. Interessanterweise kommt es laut Rohrmoser in der Philosophie zu einer (zumindest formalen) Re-Inthronisation der Sünde (Kant, Nietzsche).
Herausforderung an die europäische Kultur
Ernst Troeltsch (1865 – 1923) erkennt dieselben Probleme wie Nietzsche in unvergleichlicher Tiefenschärfe. Er verlässt zwar die Theologie, bleibt aber christlicher Kulturphilosoph. „Alles wackelt" (1912)! Auch Troeltsch ist der Auffassung, der biblische Lehrbestand der Kirche sei unhaltbar geworden. Entweder wird sich das Christentum in die fortschrittliche Kultur der Moderne hinein integrieren (auflösen) oder es verkommt zur Sekte. Troeltsch befürchtet als Folge des Historismus einen totalen Relativismus und Immanentismus und das Ende des Christentums, ja der ganzen Moderne und ihrer Kultur. Denn wenn der Relativismus auch die sittlich-autonome Persönlichkeit auflöst, kann auch die Moderne nicht mehr liberal bleiben, sie wird totalitär werden. Troeltsch findet aber wie Schleiermacher ein letztes „religiöses Apriori" in der Provinz der menschlichen Seele. Glaubten die Aufklärer noch wohlgemut, die Moderne habe eine liberale und säkulare Kultur, das Christentum aber sei im Grunde veraltet und entbehrlich, so präsentiert sich die europäische Lage im 21. Jahrhundert in neuen Horizonten. Angesichts der islamischen Forderungen nach Transformationen von europäischen Kulturbereichen im Sinne ihrer Religion wird deutlich, dass die Herausforderung des Christentums längst auch zur Herausforderung der europäischen Kultur geworden ist.
Voraussetzungslose Freiheit mündet in Anarchie und Barbarei
Ausserhalb von Europa gibt es kaum eine Kultur, die nicht zentral durch ihre Herkunftsreligion bestimmt wäre. Wenn indes selbst in den europäischen Kirchen der christliche Glaube nicht mehr lebendig sprudelt, weil sich deren Vertreter „durch die Virtuosität der Reflexion" aus dem Staub gemacht und das Volk im Stich gelassen haben (Hegel), so ist auch nach Rohrmoser die Philosophie genötigt, sich der Bedeutung der Religion für die Moderne religionsphilosophisch anzunehmen. Selbst die extremsten Ausläufer unserer säkularisierten Gesellschaft sind stärker durch die christliche Herkunftsreligion geprägt als dies dem aufgeklärten Zeitgenossen unserer Spätkultur bewusst ist. Die meisten künstlerischen Produkte der Neuzeit, ja, die deutsche Sprache selbst, sind ohne Kenntnis der Bibel nicht denkbar. Es wäre daher ein Akt kultureller Barbarei, den biblischen Unterricht an den Schulen zu beseitigen. Zudem zeigt sich immer deutlicher: Säkularisation als Aufhebung der Religion ist eine Selbsttäuschung. Die Neuzeit ist eine Epoche schwerster Kämpfe um die Wahrheit. Alle Versuche, die Religion überflüssig zu machen, sind gescheitert.
Menschenwürde und demokratische Freiheiten ohne Christentum undenkbar
So kann man die biblische Offenbarung leugnen, aber niemand kann bestreiten, dass das geschichtliche Christentum während 2000 Jahren eine Realität gewesen ist und dass unsere europäische Kultur so tief mit dem Christentum verbunden ist, dass es noch niemandem gelungen ist einen Kulturbegriff zu schaffen, der völlig frei von dieser kulturellen Tatsache ist. Auf diese Totalität zielt schon Ernst Troeltsch ab. Dem Marxismus stellt er ein christliches Programm entgegen. Troeltsch hat als Erster nicht mehr die Nation, sondern den Kontinent Europa vor Augen. Auch Rohrmoser vertritt die Überzeugung, dass die höchsten Güter der Moderne, nämlich Menschenwürde, Menschenrechte, bürgerlich-demokratische Freiheit und Humanität, ohne das Christentum weder denkbar noch überlebensfähig sind. Emanzipation im Sinne vermeintlich voraussetzungsloser Freiheit muss zuletzt in Anarchie und Barbarei ausmünden.
Modernes Europa kann nur mit dem Christentum überleben
Ein Historismus und Relativismus von Troeltsch kann freilich gemäss Rohrmoser niemals die Kraft haben, die kulturellen Auflösungserscheinungen zu überwinden. Wenn darum heute ein sozusagen diktatorischer Relativismus alternativlos und immer flächendeckender propagiert wird, so bedeutet dies ein Alarmsignal. Die protestantischen Kirchen haben derzeit weder die Kraft noch die Einsicht, dieser Faktenlage zu widerstehen. Demgegenüber plädierten schon Johannes Paul II. und Benedikt XVI. für eine Neuevangelisierung Europas. Auch die Verlautbarung „Evangelii gaudium" von Papst Franziskus und die ganze Tonlage dieses Schreibens zeigt die Wachsamkeit der Katholischen Kirche. Selbst die Fraktionschefin der Linken, Wagenknecht, empfiehlt allen Fraktionen das apostolische Schreiben als Weihnachtlektüre. So ist Rohrmosers Buch ein überaus aktuelles Plädoyer für eine christliche Religionsphilosophie und Kulturwende. Das moderne Europa kann auf unserem Kontinent nur mit dem Christentum überleben; sollte es seine Herkunftsreligion auch kulturell entsorgen, so würde es schliesslich selbst in diesen Untergang hineingerissen.
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Armin Sierszyn ist Autor des Buches "2000 Jahre Kirchengeschichte".
Der Theologe und Dozent für Kirchengeschichte, Prof. Dr. Frank Lüdke, zieht in seiner Rezension ein positives Fazit: "Insgesamt gibt es ... für viele Leser sicherlich zurzeit keinen besseren Gesamtüberblick der Kirchengeschichte als dieses Buch von Armin Sierszyn."
Neuauflage Witten 2012
Verlag: SCM R.Brockhaus
Jahr: 2012
Seiten: 909
ISBN: 978-3417264715,
49,95 €
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Leserbriefe
Die Wahrheit ist bei Gott
Der Segen Gottes wirkt nach, auch wenn sich die Menschen schon längst von der Quelle des Evangeliums zu den Abwässern gottferner Ideologien abgesetzt haben. Die Zentren des christlichen Glaubens haben sich nach Südamerika und Fernost verlagert. Ein geeintes Europa wird es aber ohne Gott nicht geben. "Da sitzen die klugen Köpfe in den Parlamenten und Rathäusern, die große Dinge in den Nationen und Völkern bewegen könnten. Doch kaum einer fällt auf die Knie um den HERRN um Rat und Weisheit anzuflehen. So muss dann Gott müßig im Himmel sitzen und spricht zu seinem Engel Gabriel: Lieber, die Menschen brauchen mich anscheinend nicht mehr. Geht und nimmt gleich Seraphim mit und lies ihnen eine Predigt zum Fenster hinein und sag ihnen: Ihr könnt noch so kluge Gedanken und ausgetüftelte Entscheidungen treffen. Ich euer Gott sage euch, es wird nichts draus…." Frei übersetzt nach Martin Luther