Interview mit Christine Schirrmacher
Frau Professor Schirrmacher, die Arabellion macht Ihr neues Buch Islam und Demokratie – ein Gegensatz? höchst aktuell. Welche Antworten geben heutige muslimische Theologen darauf?
Schirrmacher: Etliche muslimische Meinungsführer und Theologen lehnen die Demokratie rundheraus ab. Sie halten sie nicht nur für „unislamisch", sondern warnen auch Muslime in westlichen Gesellschaften vor einer zu weitgehenden Integration. Sie rufen sie dazu auf, sich abzuschotten und sich ihrer endgültigen Beheimatung in Europa zu verweigern. Besonders die in die Schlagzeilen geratenen Salafisten fallen durch ihre lautstarke Ablehnung der Demokratie und westlichen Gesellschaft auf.
Andere Theologen und Sprecher der muslimischen Gemeinschaft bejahen die Demokratie zwar als ureigenes islamisches Prinzip, begründen dann jedoch nur Teilaspekte der Demokratie mit dem Islam, während sie andere ablehnen, wie zum Beispiel den freien Religionswechsel auch für Muslime. Damit vereinnahmen sie die Demokratie und deuten sie um, bis sie in ihren vorgegebenen Deutungsrahmen hineinpasst: Demokratie darf für sie nur das sein, was ihnen nützt (wie etwa die Freiheit zur Verbreitung des Islam), aber nicht, was ihren von der Scharia, dem islamischen Recht, geprägten Auffassungenwiderspricht (wie die westliche Pressefreiheit, die auch die Veröffentlichung von Karikaturen mit einschließt).
Wieder andere Intellektuelle, Theologen oder Autoren haben verschiedene Modelle der Vereinbarkeit des Islam mit Freiheits- und Gleichheitsrechten sowie der Begründung der Demokratie aus dem Islam entworfen. Demokratien und demokratische Prinzipien vollständig zu bejahen ist jedoch nur möglich, wenn das klassische Schariarecht nicht als heute verbindlich anzuwendendes Recht betrachtet wird.
Sind Demokratien „christlich" und daher nicht mit dem Islam kompatibel?
Schirrmacher: Eine Demokratie ist keine religiös legitimierte Herrschafts- oder Staatsform, von daher kann sie per se nicht „christlich" sein. Sie besitzt allerdings einige Kennzeichen, die man als politische Umsetzung einiger christlicher Grundprinzipien bezeichnen könnte, auch wenn nicht alle Demokratien – das gilt vor allem für Indonesien und die Türkei – kulturell vom Christentum geprägt sind.
Inwiefern setzen Demokratien „christliche" Prinzipien um?
Schirrmacher: Zum Beispiel die christliche Grundannahme, dass Menschen fehlbar sind und Macht zum Machtmissbrauch verleiten kann. Der Versuch, die Macht der Machthabenden zu beschränken, kommt innerhalb der Demokratie durch die Möglichkeit der Abwahl aller demokratisch gewählten Volksvertreter sowie durch das Vorhandensein von Kontrollgremien (wie etwa dem Parlament) zum Ausdruck.
Das Prinzip des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, das jedem Bürger dieselbe Anzahl an Stimmen und dasselbe Gewicht seiner Stimme zumisst, kann als politische Umsetzung des biblischen Gedankens der Gleichheit aller Menschen vor Gott und der daraus abgeleiteten Menschenwürde betrachtet werden.
So wie der einzelne Mensch vor Gott frei ist in seiner Entscheidung und in erster Linie seinem Gewissen verpflichtet, so ist es auch der Bürger in einer Demokratie, in der freie und vor allem geheime Wahlen eine Manipulationen der Wahlentscheidung verhindern sollen.
Was bedeutet das in Bezug auf die Frage legitimer Herrschaft?
Schirrmacher: Vom Alten und Neuen Testament her kommt die Ablehnung der Auffassung her, dass sich in der weltlichen Herrschaft eine unhinterfragbare, quasi göttliche Autorität manifestiert. Herrscher unterstehen dem Gesetz und der für alle geltenden Ethik. Herrschende sind in Demokratien keine unfehlbaren und unhinterfragbaren Gottkönige, sondern korrekturbedürftige Verwalter in herausgehobener Position, deren Macht begrenzt und kontrolliert werden muss. Dies entspricht der biblischen Erkenntnis von der Anfälligkeit aller Menschen für Versuchungen sowie dem generellen Verbot, Menschen an die Stelle Gottes zu setzen.
Dass der Regierende hinsichtlich seines moralischen und strafrechtlichen Handelns nach denselben Maßstäben wie seine Bürger beurteilt wird, kann als politische Umsetzung des christlichen Menschenbildes betrachtet werden, das jedem Menschen dieselbe unveräußerliche Gottesebenbildlichkeit zuspricht. Wenn Machthaber zur Rechenschaft für ihr Handeln gezogen werden, könnte dies auch als Umsetzung des biblischen Gedankens der Haushalterschaft betrachtet werden, dem zufolge sich alle Menschen ohne Ansehen der Person vor Gott und Menschen für ihr Handeln verantworten müssen (Lukas 12,20). Logische Konsequenz aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, seiner Würde und Freiheit ist auch seine Gewissens- und Religionsfreiheit.
Können im Islam Staat und Religion getrennt werden?
Schirrmacher: Der Korantext gibt selbst so wenig konkrete Auskunft über diese Frage, dass ihm kaum Regieanweisungen für eine als ideal betrachtete Herrschaftsform entnommen werden können. Zwar könnte aus der Rolle Muhammads als Heerführer, Gesetzgeber und Prophet geschlussfolgert werden, dass die ideale islamische Herrschaft geistliche und weltliche Herrschaft zugleich sein soll. Vor allem Führer aus dem islamistischen Spektrum haben dieses Modell als einzig legitime Herrschaftsform propagiert und auf die Umsetzung dieses Ideals mit allen Kräften hingewirkt.
Allerdings handelt es sich bei diesem Gedanken der Einheit von Staat und Religion vor allem um ein in die islamische Geschichte zurückprojiziertes Ideal. In Wirklichkeit musste sich die islamische Gemeinschaft spätestens nach der Regierungszeit der Muhammad nachfolgenden vier Kalifen (sie regierten 632–661 n. Chr.) in ihrer gesamten Geschichte mit der Tatsache auseinandersetzen, dass es einen einzigen Herrscher über die Gesamtheit der Muslime und eine Einheit von weltlicher und geistlicher Macht niemals mehr gegeben hat. Realität war vielmehr eine Vielzahl miteinander um die Macht ringender rivalisierender Familien, Dynastien und theologischer Gruppierungen, die sich gegenseitig bekämpften und sich den Herrschaftsanspruch beziehungsweise die Deutungshoheit über den Islam erbittert streitig machten.
Wie sah das konkret aus?
Schirrmacher: Schon unmittelbar nach Muhammads Tod 632 n. Chr. brach unter seinen Anhängern ein grundsätzlicher theologischer (und machtpolitischer) Streit um seine Nachfolge aus: Spätestens mit dem Jahr 680 n. Chr. – der für die muslimische Gemeinschaft so folgenschweren Entscheidungsschlacht von Kerbela im heutigen Irak – gilt die Gruppierung der Schiiten neben der Mehrheit der Sunniten als fest etabliert und die Gemeinschaft der Muslime als in grundsätzlichen Fragen gespalten. Sunniten wie Schiiten spalteten sich über die Jahrhunderte hinweg in weitere zahlreiche Gruppierungen und Untergruppierungen auf.
Während das Kalifat unter den vier ersten Nachfolgern Muhammads bis zum Jahr 661 n. Chr. noch eine gewisse Einheit von weltlicher und geistlicher Macht repräsentiert hatte, wurde in späteren Jahrhunderten die immer stärkere konfessionelle und machtpolitische Spaltung Realität. Von einer Einheit von weltlicher und religiöser Herrschaft oder auch nur von einer einheitlichen Beantwortung der Frage, wer berechtigt ist, die gesamte Gemeinschaft der Muslime zu regieren oder auch nur zu repräsentieren, kann vom ersten islamischen Jahrhundert an nicht mehr die Rede sein.
Wie begründen islamische Theologen die „Wiederfindung" der Demokratie im Islam?
Schirrmacher Zur „Wiederfindung" der Demokratie im Islam weisen muslimische Wortführer heute immer wieder darauf hin, dass schon der Koran eine Beratung des Herrschers befürworte, also die Einbeziehung mehrerer Stimmen in politische Entscheidungsprozesse von der Zeit Muhammads an. Zumeist werden für diese Sichtweise die Suren 3,159 und 42,38 angeführt, die empfehlen, dass sich die gläubigen Muslime untereinander „beraten" sollen. Der Begriff „beraten", der im Koran im Arabischen in beiden Versen Verwendung findet, besitzt dieselbe Wurzel wie der heute im politisch-islamischen Bereich oft verwendete Terminus der „Schura" („Beratung"). Aus der Sicht islamischer Apologeten soll die Schura als eine Art „islamische Demokratie" im Laufe der islamischen Geschichte etabliert worden sein.
Ist dem zuzustimmen?
Schirrmacher: Es ist zwar richtig, dass in der Geschichte des Islam die ersten vier Kalifen nach Muhammad aus einer Wahl hervorgingen; aber schon die Dynastie der Umayyaden machte das Kalifat ab dem Jahr 661 n. Chr. erblich. Sicher hat sich, wie die islamische Geschichtsschreibung erläutert, auch Muhammad mit seinen Vertrauten über Kriegszüge und Friedensschlüsse beraten. Realistisch betrachtet sind jedoch weder in der islamischen Geschichte noch in der Gegenwart – zumindest in arabischen Ländern – Elemente einer echten Demokratie nach oben beschriebener Definition nachweisbar. Es finden sich auch heute dort nicht einmal Gremien, die die Macht wirksam kontrollieren und einem westlich-demokratischen Parlament auch nur annähernd vergleichbar wären. Zwar tragen die Konsultativgremien einiger Länder, insbesondere in den Golfstaaten, den Titel »majlis ash-shura« (Konsultativrat; beratendes Gremium); dennoch sind gerade die Golfmonarchien in der Regel absolute Monarchien, in deren „Beratergremien" die einflussreichen Familien des Landes Vertreter entsenden.
Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Gremien die absolute Macht der Herrscherfamilie begrenzen, kontrollieren, den Herrscher bei Rechtsverstößen zur Verantwortung ziehen oder sogar absetzen könnten. Die Herrschaftsform der Frühzeit des Islam ist das Kalifat, später die Autokratie, die absolute Monarchie oder das autokratische Präsidialsystem (ein de facto allmächtiger Präsident herrscht mit einem Scheinparlament), sowie in einigen wenigen Fällen die Theokratie. Echte Demokratien sind im arabischen Raum bisher jedoch nicht entstanden.
Können islamische Gesellschaften demokratisch sein?
Schirrmacher: „Der Islam" als private Religionsausübung oder ethisches Wertegerüst wird einer Demokratie kaum entgegenstehen. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass die Ausübung des Islam als Religion, zum Beispiel durch Gebet und Fasten, im unversöhnlichen Widerspruch zu einer Demokratie stehen sollte. Allerdings gilt das nur in Bezug auf den Islam als persönlicher Glaube, nicht in Bezug auf den Islam als Rechtssystem, das Gesetze, Werte und Normen bestimmt.
Wo das Schariarecht Gesetz, Gesellschaftsordnung und Rechtsprechung prägt, können keine umfangreichen Freiheitsrechte im Sinne der UN-Charta der Menschenrechte von 1948 zugelassen werden, denn das Schariarecht kann nach seiner traditionellen Auslegung weder Männern und Frauen noch Muslimen und Nichtmuslimen noch Religionswechslern oder Atheisten Gleichberechtigung zubilligen. Daher ergeben sich in Bezug auf eine islamische Gesellschaft, in der Scharianormen das Rechtssystem prägen, erhebliche Schwierigkeiten auf dem Weg in die Demokratie, so etwa auf den Gebieten des Ehe- und Familienrechts, in Bezug auf umfassende Menschenrechte, das Strafrecht sowie die Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit.
Ein Wort zum Schluss?
Schirrmacher: Bisher wird das Schariarecht als ein Kompendium von Geboten aus der Zeit des 7. bis 10. Jahrhunderts n. Chr. als unaufgebbares Gottesgesetz gelehrt und Muhammad gilt als nicht hinterfragbares zeitloses Vorbild, nicht nur in religiösen Belangen, sondern auch in seiner Funktion als Gesetzgeber und Heerführer. Solange das der Fall ist, werden Meinungs- und politische Freiheiten, Gleichheitsrechte von Frauen und Männern oder Muslimen und Nicht-Muslimen sich nicht entwickeln können, ebenso wenig wie Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Gewissens- und Religionsfreiheit.
Demokratie entsteht nicht einfach von selbst und kann von außen zwar unterstützt, aber nur sehr bedingt in eine Region hineingetragen werden. Demokratie braucht wirtschaftliche Entwicklungen, aber vor allem einen weltanschaulichen Humusboden, um wachsen und gedeihen zu können. Demokratien brauchen ideengeschichtliche Ableitungen und Begründungen, die auf übergeordneten, von einer Mehrheit anerkannten weltanschaulichen Grundlagen basieren und aus diesen heraus erklärt werden können – nur dann werden sie sich bei einer Mehrheit durchsetzen und gesellschaftlich etablieren können.
Herzlichen Dank für das Interview!