Vorwort von Thomas Schirrmacher zum Buch „Deutschlands sexuelle Tragödie"
von Bernd Siggelkow und Wolfgang Büscher aus Erfahrungen der Arche
Ich wünsche mir, dass so viele Menschen wie möglich die erschütternden Lebensgeschichten junger Menschen lesen, die „Die Arche" in diesem Buch zusammengetragen hat. Sie sollten es aber nicht mit dem Blick des entsetzten Zeitungslesers tun, der nur wieder einen Beweis mehr findet, dass die Welt früher besser war, sondern mit dem mitleidenden und hilfsbereiten Herzen der Arche-Mitarbeiter, die diese Geschichten nur deshalb aufzeichnen konnten, weil sie bereit waren, vor Ort zu sein, viele Stunden lang zuzuhören und zu helfen.
Das einstige Tabu, mit dem das Thema Sexualität behaftet war, ist längst dem Tabu gewichen, über die Folgen der sexuellen Freizügigkeit zu sprechen. Dass es Sexsucht, Pornografiesucht und extreme sexuelle Verwahrlosung gibt, wird nur selten thematisiert. Wer es dennoch tut, gilt als lebensunlustig und verklemmt.
Am schlimmsten trifft es wieder einmal Kinder und Jugendliche. Selbst wenn die sexuelle Verwahrlosung bei ihnen in alle anderen Lebensbereiche übergreift und ihnen die Zukunft verbaut, fühlt sich keiner zuständig. Und selten haben diese jungen Menschen eine Familie, die ihnen helfen kann - ist doch meist die Familie überhaupt der Ursprung ihrer Probleme.
Was ich als Wissenschaftler aus Untersuchungen und Statistiken in meinen Büchern „Ausverkaufte Würde" und „Internetpornografie" zusammengetragen habe, erleben die Mitarbeiter der Arche täglich im Umgang mit Betroffenen. Wo ich meine Bücher beiseitelegen kann, wenn mich die Trauer überfallen will, und Feierabend mache, fängt die Arbeit der Arche-Mitarbeiter erst an!
Eine Tragödie nimmt ihren Lauf, die allein deshalb schon ein gesellschaftliches Thema sein müsste, weil sie aufgrund ihrer Folgen auch die Sozialkassen stark belasten werden, wenn einen das Schicksal Einzelner schon nicht bewegt. Die verheißene sexuelle Befreiung ist längst völlig aus dem Ruder gelaufen. Der versprochene Spaß wird täglich beworben, über diejenigen, die die Zeche bezahlen, spricht man kaum; seien es Zwangsprostituierte, Sexsüchtige oder Kinder, die durch Frühsexualisierung die Fähigkeit verlieren, noch irgendwelche stabilen Beziehungen jenseits vom Sex aufzubauen - mit allen Folgen, die das hat.
Während wir erfreulicherweise an Deutschlands Arbeitsplätzen dafür sorgen, dass sexuelle Belästigung und sexistisches Gerede aufhören, ist beides in immer mehr Familien Alltag. Wenn Eltern mit ihren Kindern täglich Pornofilme schauen und Kinder zu Hause ständig wechselnde Partner ihrer Mütter kommen und gehen sehen, dann folgen sie nicht nur diesem Vorbild, sondern rutschen in der Regel noch tiefer in den Sumpf ab als ihre Eltern. Gut, dass es Menschen wie die Mitarbeiter der Arche gibt, denen das nicht egal ist, sondern die vor Ort sind, Zeit haben und denen Gesprächspartner sind, die zu Hause keine mehr haben.
Das Ganze ist, wie die Autoren deutlich zeigen, längst kein reines Unterschicht-Problem mehr. Zwar habe ich in meinem Buch „Die neue Unterschicht" versucht zu zeigen, dass die Unterschicht die entstehenden Probleme viel schlechter kaschieren und Geld manche Folgen abfedern kann, doch wir haben hier letztlich kein materielles, sondern ein ethisches Problem vor uns, und wo die ethischen Grundlagen wegbrechen, kann auch Geld keinen Ersatz schaffen.
Die Arche arbeitet im Geist der christlichen Nächstenliebe. Aber die von ihr beschriebenen Einzelschicksale sind so offensichtlich dramatischer Natur, dass man längst keine spezielle christliche Ethik mehr braucht, um zu erkennen, dass hier Menschen dringend Hilfe brauchen.
Christlich an der Arche ist aber eben auch, dass sie sich an vorderster Front denen widmet, die im Sumpf versinken. Christen reden deutlich von Sünde, Schuld, bösen Strukturen und persönlicher Verantwortung, aber sie sind - hoffentlich jedenfalls - auch mitten im Geschehen präsent, und bieten Tätern, schuldig Gewordenen und Opfern gleichermaßen die Hilfe an, die Jesus Christus allen angeboten hat - den Prostituierten wie den korrupten Zollbeamten, den Pharisäern wie den Kleinkindern. Das Böse wird nicht einfach überwunden, indem man von außen darüber schreibt, sondern indem man auch in die Realität hinabsteigt und den Menschen dort hilft, wo sie tatsächlich leben. Die Botschaft der Bibel ist nicht deswegen eine gute Nachricht, weil es die Glücklichen noch glücklicher macht, sondern weil sie sich dort bewähren will, wo das Leben am Dunkelsten ist. „Die Starken brauchen keinen Arzt, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, die Verlorenen zu rufen und nicht die Gerechten" (Jesus in Markus 2,17).
Zu Thomas Schirrmacher
Prof. Dr. phil. Dr. theol. Thomas Schirrmacher, Theologe und Soziologe, leitet das Institut für Lebens- und Familienwissenschaften und ist als Sprecher für Menschen-rechte der Weltweiten Evangelischen Allianz auch mit der Bekämpfung des internationalen Sex-Trafficking befasst. Unter anderem forscht er seit zwei Jahrzehnten über die Verbreitung der Pornografie und zu welchen Verhaltensweisen sie im Alltag führt. Zum Thema "Internetpornografie" ist 2008 im Verlag Hänssler sein Buch "Internetpornografie: ... und was jeder darüber wissen sollte" erschienen (ISBN-13: 9783775148382).
Literaturangaben zum Buch von Bernd Siggelkow und Wolfgang Büscher:
Deutschlands sexuelle Tragödie. Wenn Kinder nicht mehr lernen was Liebe ist.
Gerth Medien, 2008. Pb. 208 S., ISBN 978-3-86591-346-3
Das Buch ist über den örtlichen Buchhandel beziehbar oder online bei www.genialebuecher.de.