28.04.10
Religiöse Symbole in Staat und Gesellschaft
Anmerkungen zum Kreuz und zur Religionsfreiheit in einer pluralen Gesellschaft
von Josef Bordat
(MEDRUM) Immer wieder gibt es (leider!) Anlass, über Religionsfreiheit nachzudenken. Ein aktueller Fall ist die Einlassung der niedersächsischen Sozialministerin Aygül Özkan zu religiösen Symbolen an staatlichen Schulen vor ihrem Amtsantritt. „Christliche Symbole", so wird die erste muslimische Ministerin zitiert, „gehören nicht an staatliche Schulen" und auch Kopftücher hätten „in Klassenzimmern nichts zu suchen". Religionsfreiheit wird im Konzert der Freiheitsrechte also schnell zum Misston. Doch selbst, wenn sie in der Meinungsfreiheit aufgeht, spricht viel für das Kreuz.
Ein komplexes Problem
In den letzten Jahren ist in den USA und in Europa (anderswo gibt es diese Debatten kaum) immer wieder vom Kruzifix oder Kreuz die Rede, an dessen Exposition im staatlichen oder öffentlichen Raum Anstoß genommen wird. Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahr 1995, nach dem in den Klassenzimmern staatlicher Schulen Kruzifixe oder Kreuze nur hängen dürfen, falls dies nicht auf Widerspruch in den Schulklassen stößt, da dies mit der weltanschaulichen Neutralität des Staates kollidiert, hat es viele Diskussionen und einige Urteile auf unterschiedlichen Ebenen gegeben, zuletzt ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (2009), in dem das EU-Land Italien angewiesen wird, die Kreuze aus staatlichen Schulen zu entfernen. Ein ganz aktueller Fall ist die Einlassung der künftigen niedersächsischen Sozialministerin Aygül Özkan zu religiösen Symbolen an staatlichen Schulen. „Christliche Symbole“, so wird die erste muslimische Ministerin zitiert, „gehören nicht an staatliche Schulen“ und auch Kopftücher hätten „in Klassenzimmern nichts zu suchen“.
So problematisch es ist, unterschiedliche Fallkonstellationen gemeinsam zu behandeln, soll dies hier mit allgemeinen Bemerkungen zum Diskurs um Religion in der säkularen Gesellschaft gewagt werden. Ein Schwerpunkt soll dabei auf der christlichen Religion und ihren Symbolen liegen, denn ich gebe zu: Ich bin befangen, weil mir ein ganz bestimmtes religiöses Symbol, das Kreuz nämlich, sehr angenehm ist. Als Christ sehe ich im Kreuz nicht nur menschliches Leid, sondern auch göttliches Heil. Das ist für mich tröstlich und motivierend. Christliche Kultur und christliche Werte sind bei mir positiv besetzt, so dass auch solche „weichen“ Aspekte in meinen Augen das Kreuz, das eben diese Kultur und Werte symbolisiert, unabdingbar machen.
Wenn ich von „Heil“, „Kultur“ und „Werten“ spreche, zeigt sich schon ein weiteres Problem: die Komplexität der Materie. Neben religiösen, theologischen, ethischen und kulturellen Aspekten, geht es um Geschichte, Politik und Recht. Kaum ein Bereich der menschlichen Gemeinschaft bleibt also ausgespart. Auch juristische Argumentationen in Urteilsbegründungen sind historisch, politisch und theologisch durchwachsen. Um ein wenig Ordnung zu schaffen, müssen wird zunächst – wie so oft – differenzieren, zum einen zwischen „Kruzifix“ und „Kreuz“, zum anderen zwischen „staatlich“ und „öffentlich“. Das möchte ich tun. Dann möchte ich einige Bemerkungen zur Genese und Geltung der Religionsfreiheit anfügen und zeigen, dass sich an der Beurteilungen des Kreuzes auch dann in der Konsequenz nichts ändert, wenn man – wie von säkularistischen Kreisen vorgeschlagen – die Religionsfreiheit abschafft, indem man sie in der Meinungsfreiheit untergehen lässt, also Religion als bloße Meinung begreift. Das ist zwar – wie wir sehen werden – historisch blind, weil die Meinungsfreiheit aus der Glaubens- und Religionsfreiheit entstanden ist, führt aber – wie wir ebenfalls sehen werden – nicht zu anderen Entscheidungen. Schließen möchte ich mit einem praktischen Vorschlag zur Lösung des Problems in der Schule.
Kruzifix und Kreuz - zwischen Befindlichkeiten und Werteverständnis
Was ist ein Kruzifix, was ist ein Kreuz? Ein Kruzifix ist die bildliche Darstellung des gekreuzigten Christus, ein Kreuz ist ein Gegenstand, der aus zwei senkrecht aufeinander stehenden Balken gebildet wird. Während bei jenem das Kreuzesgeschehen naturalistisch dargestellt wird, ist es bei diesem symbolisch präsent.
Es gibt Klagen, die sich explizit gegen das Kruzifix wenden, weil darin die „gewaltverherrlichende Zurschaustellung eines Leichnams“ gesehen wird, der man sich (oder seine Kinder) nicht ausgesetzt wissen möchte. Das Kruzifix ist in den Augen eines Menschen, der im Kreuzesgeschehen nicht Gottes Sohn auf dem Weg durch das Leid ins Heil – in Seines und das der Welt – erblickt, sondern einen gescheiterten Menschen, der von einer Militärdiktatur beseitigt wird, in der Tat ein ästhetisch und ethisch fragwürdiges Artefakt mit verstörendem Impetus. Die christliche Mehrheitsgesellschaft hat darauf gegenüber Nicht- und Andersdenkenden insoweit Rücksicht zu nehmen, als bei begründeten Beschwerden in Kontexten, denen der Beschwerdeführer nicht ausweichen kann, auch gegen die üblichen Gepflogenheiten das Kruzifix abzuhängen ist. So lautet – wenn ich richtig informiert bin – die herrschende Rechtsauffassung.
Etwas anderes ist das Kreuz. Hier fällt der Aspekt der „verstörenden Ästhetik“ weg. Dem Symbol muss der Bedeutungsgehalt erst zugeschrieben werden. Die – unter Umständen ebenso verstörende – Zuschreibung einer negativen Bedeutung (das Kreuz als „Symbol der Gewalt“), die in Gedanken den fehlenden Leichnam ergänzt, weil man von anderswo das Kruzifix kennt, kann nicht Gegenstand von Prozessen sein, die auf eine Stärkung der individuellen Rechtsposition abzielen, denn eine Freiheit von nicht objektivierbaren „verstörenden Gedanken“ kann kein Staat gewährleisten. Doch hier – im Kreuz als Symbol – ist auch ein objektiver Bedeutungsgehalt festzumachen: das Kreuz ist Symbol einer bestimmten Religion, des Christentums. Und wenn man nun das Christentum als „Religion der Gewalt“ sieht, lassen sich die Klagen, die dem Kruzifix galten, auf das Kreuz übertragen.
Jenseits dieser Ebene individueller Befindlichkeiten, auf die in der ersten Klagephase in den 1990er Jahren abgehoben wurde, tut sich damit eine weitere Ebene auf, die heute den Diskurs im Wesentlichen bestimmt: Das Kreuz als „christliches Symbol“ ist – wie auch immer jeder Einzelne zum Christentum steht – unstreitig das Symbol einer „weltanschaulichen Orientierung“. Bei aller historischen und kulturellen Bedeutung des Christentums für den europäischen Staat und dessen Wertverständnis, das nur hinsichtlich der Genese, nicht aber der Geltung umstritten ist, gilt das Kreuz als Versinnbildlichung einer Idee, die zwar universalistischen Anspruch erhebt, jedoch nur noch partikular Akzeptanz erfährt. Das Kreuz auszustellen beinhaltet eine Position, die nicht oder nicht mehr von allen geteilt wird. Dies – und nur darum geht es in der zweiten Klagephase seit einigen Jahren – widerspricht der „weltanschaulichen Neutralität“ des Staates.
Staatlicher und öffentlicher Raum
Wir müssen jetzt differenzieren zwischen „öffentlich“ und „staatlich“. Die Schule, um die es bislang immer geht, ist ein Mittelding. Sie begründet ein besonderes Schutzverhältnis (das man durchaus „staatlichen Zwang“ nennen kann), das seinerseits aber die Schule nicht von der Öffentlichkeit abgrenzt. In Schulen finden Versammlungen, Konzerte, Aufführungen und Ausstellungen statt. Schulen sind insoweit öffentlich, aber nicht staatlich. Schulklassen werden als Wahllokale genutzt und sind in dieser Funktion öffentlich und staatlich. Es geht aber vor allem um den regulären Unterricht. Dieser ist nicht öffentlich, aber staatlich, das bedeutet, er wird – an staatlichen Schulen – von einem weltanschaulich neutralen Staat angeboten. Dass diese Vorstellung reinste Theorie ist, weil der Unterricht in der Tat von Lehrerinnen und Lehrern angeboten wird, die als Persönlichkeiten ihre Werte nie ganz ausblenden können, dürfte klar sein, doch für den rechtlichen Diskurs ist diese Unterscheidung von „öffentlich“ und „staatlich“, von weltanschaulich „positioniert“ und „neutral“ sehr wichtig.
Doch sie löst die Frage, ob und inwieweit Religionen einen Platz außerhalb von Privatwohnungen oder religiösen Einrichtungen haben sollten, nicht wirklich, denn: 1. Die Zuschreibung von Instituten zu „staatlich“ oder „öffentlich“ ist – wie bei der Schule – nicht unumstritten. 2. Gesetzt den Fall, die Zuschreibung wäre eindeutig, stellte sich immer noch die Frage, ob nur staatliche oder auch öffentliche Einrichtungen von religiösen Symbolen „befreit“ werden sollen, also ob und inwieweit Religion nicht nur im staatlichen, sondern auch im öffentlichen Raum „neutralitätsverletzend“ wirkt.
Weltanschauliche Neutralität des Staates und drohender Identitätsverlust
Angenommen, man plädierte dafür, den Staat „religionsrein“ zu halten, die Öffentlichkeit aber nicht – hätte man dann eine saubere Lösung gefunden? Nein. In der Symbolik des weltanschaulich neutralen Staates, die aus einer Zeit stammt, in der die „Staaten“ noch nicht weltanschaulich neutral sein wollten, zeigt sich nämlich die Problematik von Religion im Staat in ihrer ganzen Komplexität: auf Siegeln, Wappen und Flaggen, die bei Akten staatlich-hoheitlicher Gewalt eine Schlüsselrolle spielen, ist oft ein religiöses Symbol, etwa das Kreuz, zu erkennen. Auch darauf müsste verzichtet werden, wenn der Staat wirklich ernst machen wollte mit weltanschaulicher Neutralität. Es ist nicht einzusehen, weshalb zwar das Kreuz von der Wand genommen wird, der Verbandskasten mit dem Kreuz aber hängen bleibt. Auch hier müsste das Kreuz entfernt werden. Befindet sich auf der Landesfahne ein Kreuz, wie dies in Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland und der Schweiz deutlich erkennbar der Fall ist, müsste auch hier der Riegel der weltanschaulichen Neutralität vorgeschoben werden.
Dass dies keine theoretisch-abwegigen Überlegungen sind, die sich gelangweilte Hobbyjuristen machen, zeigte sich bei einem Champions-League Spiel des AC Mailand gegen Fenerbahce Istanbul, vor dem, bei dem und nach dem es auf genau dieser argumentativen Linie Ärger um die Milan-Trikots gab. Grund: Die Stadt Mailand hat in ihrem Wappen ein Kreuz und in jener Jubiläumssaison trugen es die Spieler des Vereins auf den Trikots – zwei große, rote Linien, die im Rechten Winkel aufeinander stehen: ein Kreuz. Die 20jährigen Holländer, Brasilianer und Italiener in Reihen des AC sähen darin aus wie „Kreuzritter“, so der Vorwurf des türkischen Fußballvereins. Hier zeigt sich, wie ein hoheitliches Symbol religiös gedeutet werden kann. Der Neutralitätsanspruch fällt auf den Staat zurück. Eine Lösung gäbe es nur, wenn der Staat auf jedes Hoheitszeichen verzichtete, das auch weltanschaulich gedeutet werden könnte, wozu dann nicht nur religiös Symbole wie Kreuze und Halbmonde, sondern auch Sterne, Ährenkränze und Werkzeuge wie Hammer und Sichel zählten. Der Staat, der aus Gründen der weltanschaulichen Neutralität seine eigenen Symbole nicht mehr verwenden darf, hebt sich aber auf. Das gilt es zu bedenken. – Es handelte sich bei der fraglichen Partie übrigens um ein Spiel in Mailand, nicht in Istanbul.
Positive und negative Deutung der Religionsfreiheit
Angenommen, man meinte, und dafür spricht einiges, dass hinter der Aussage: „Religion soll im Staat keine Rolle spielen.“ in Wahrheit steht: „Religion soll in der Öffentlichkeit keine Rolle spielen.“ Dann geht es nicht nur um die Wertneutralität des Staates im originär hoheitlichen Raum, sondern um das Ende der Religion in der Öffentlichkeit überhaupt. Der politische Diskurs weist in diese Richtung. Es geht letztlich um Symbolik und die Besetzung öffentlicher Räume mit Bedeutungsträgern und damit – ganz langfristig – um Sinnstiftung in der Gesellschaft. Irgendwo muss man da anfangen. Die Schule ist da ein dankbares Objekt. Kreuze, Kopftücher, Morgengebet, Religionsunterricht in staatlichen Schulen, das sind die Schlachtfelder, gemeint ist aber immer die Gesellschaft als ganze. Die Schule ist nicht das einzige Objekt der Neutralitätsbegierde und es wird auch nicht das letzte sein.
Dieser explizit oder implizit erweiterte Diskurs regt, so stellt man unweigerlich fest, einen Paradigmenwechsel in der Ausdeutung des Begriffs „Religionsfreiheit“ an, von der positiven hin zur negativen Deutung. Was heißt das? Es geht dabei um die Frage, wie wir „Religionsfreiheit“ verstehen müssen: positiv (als Freiheit zur Religionsausübung) oder negativ (als Freiheit von Religionsausübung). Gemeint ist in den einschlägigen Rechtstexten und Kommentaren ersteres, neuere Urteile, Stellungnahmen und Stimmungen verweisen auf letzteres. Es hilft nichts: Wir müssen uns den Begriff Religionsfreiheit näher anschauen.
Menschenrecht der Religionsfreiheit braucht den öffentlichen Raum
Religionsfreiheit ist zunächst ein Menschenrecht. Doch nicht nur das: Es ist auch ein zentrales, herausragendes, elementares und – bezogen auf die Genese der Menschenrechtsidee – ursprüngliches Menschenrecht. Christliches Gedankengut zeigt sich im Kontext der liberalen Menschenrechte in der Entwicklung, dem Wesen und dem Geltungsanspruch dessen, was als Freiheit von staatlicher Allmacht definiert wird. Es zeigt sich in Leib- und Lebensrechten, wie etwa im Folterverbot, und es liegt Freiheits- und Gleichheitsrechten zugrunde. Die vielen Freiheiten in Politik, Wissenschaft, Medien und Kunst, das macht ein Blick in die Entwicklungsgeschichte der Menschenrechtsidee deutlich, gründen auf der einen elementaren Freiheit, der Religionsfreiheit. Dies lässt sich historisch zurückverfolgen bis zum Exodus des jüdischen Volkes, in der sich die erste kollektive Freiheitsbewegung der Geschichte manifestiert, deren Motiv auch in der religiösen Integrität der Israeliten liegt. Der Staatsrechtler Jellinek sieht in der Religionsfreiheit „das Ursprungsrecht der verfassungsmäßig gewährten Grundrechte“. Und der in Religionsfragen eher unverdächtige Marxist Ernst Bloch sagte: „Die Bedeutung der Glaubensfreiheit kann daran gemessen werden, dass in ihr der erste Keim zur Erklärung der übrigen Menschenrechte enthalten ist“. Kurzum: Ringen um Freiheit war und ist zunächst das Ringen um Religionsfreiheit.
Sodann geht es um die Reichweite der Religionsfreiheit. Gemessen an den Rechtstexten Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Welt), Europäische Menschenrechtskonvention (Europa) und Grundgesetz (Deutschland) sowie den maßgeblichen Kommentaren dazu meint Religionsfreiheit die Freiheit zur Ausübung von Religion im öffentlichen Raum. Welchen Sinn sollte Religionsfreiheit sonst auch haben? Wenn religiöse Symbole oder religiöse Betätigung im öffentlichen Raum grundsätzlich verboten sein sollen, dann kann der einzelne Bürger seine Religion eben nicht frei leben. Ihm bliebe nur die Betätigung im Privaten. Handlungen in Privatwohnungen, Clubhäusern oder Vereinsheimen sind aber ohnehin in besonderer Weise geschützt, dazu bräuchte es kein besonderes Freiheitsrecht. Religionsfreiheit muss im Kanon der Menschenrechte eben deshalb extra aufgeführt werden, weil sie auf Ausübung von Kultus und Ritus im öffentlichen Raum zielt.
Vorrang der Freiheit zur Religion vor Wohlfühlrecht
Nun aber wird in neueren Urteilen Religionsfreiheit nicht mehr positiv gedeutet, sondern negativ. Es gilt nicht mehr die „Freiheit zur Religion“, sondern die „Freiheit von Religion“ als schützenswert. Zwar beinhaltet Religionsfreiheit selbstverständlich auch das Recht, keine Religion zu haben. Die Frage ist jedoch, ob das Konzept Religionsfreiheit auch ein weitergehendes Rechtsgut – also: von Religionen und ihren Symbolen gänzlich verschont zu bleiben – als schützenswert beinhaltet, und ob damit – das ist entscheidend – dem Recht auf „Nichtbelästigung“ dem Recht auf Religionsausübung ein Vorrang eingeräumt werden soll. Ist das Menschenrecht auf Religionsfreiheit so gemeint? Als Abwehrrecht gegen Religionsgemeinschaften im öffentlichen Raum? Sicher nicht! Es ist ja gerade als Abwehrrecht der Religionsgemeinschaften gegen einen Staat konzipiert, der die Ausübung von Religion im öffentlichen Raum unterbindet. Es ist also ein Gewährleistungsanspruch für Religionsgemeinschaften, nicht für die, die sich von Religionsgemeinschaften belästigt fühlen. Selbstverständlich haben die Religionsgemeinschaften die Freiheitsrechte derer, die ihr nicht angehören, zu achten, eine Auflage, die für rituelle Handlungen und Symbole faktisch eine begrenzende Wirkung entfaltet. Über das Maß muss sich juristisch und politisch verständigt werden. Die Tendenz geht in eine eindeutige Richtung: Je weniger Religion in der Gesellschaft verankert und je umstrittener der kulturelle Beitrag der Mehrheitsreligion Christentum zum Gemeinwesen ist, desto weiter wird die Auflage gefasst, weil immer mehr „Wohlfühlrechte“ einzelner Menschen als gegenüber der Religionsausübungsfreiheit höherstehend angesehen werden. Es soll aber nicht so sein – darin ist man sich in Deutschland (noch) einig –, dass das Recht auf „Nichtbelästigung“ den Staat die Religionsausübung im öffentlichen Raum grundsätzlich unterbinden lässt. Es lässt sich bei der Religionsausübung im öffentlichen Raum nicht immer vermeiden, dass derjenige, der mit Religion nichts zu tun haben möchte, mit Religion in Berührung kommt. Das auszuhalten gilt dem Staat (bisher) als geringere Anforderung an die Toleranz der Bürger als ein grundsätzliches Verbot von „Störungen“ durch öffentliche Religionsausübung hinnehmen zu müssen. Bisher.
Keine Unterdrückung der Religionsfreiheit wegen Minderheitenschutz
Der Glaube, so bestimmt es das „wohlwollende Verhältnis“ (Di Fabio) des wertneutralen (aber nicht „wertlosen“ oder „wertfreien“) Staates zu den großen Religionsgemeinschaften, ist zwar eine persönliche und keine öffentliche Angelegenheit, das bedeutet aber nicht, dass seine praktische Äußerung privat zu bleiben hat. Hier kommt oft das Argument der Gleichbehandlung von Religionsgemeinschaften ins Spiel: Wenn schon Ausübungsfreiheit, dann immer, überall und für alle – oder eben nie, nirgendwo, für niemanden! Trotz des Umstands, dass mir scheint, dieses Argument werde nicht immer ernsthaft und konstruktiv in die Diskussion eingebracht, zumal, wenn es gerade von denen kommt, die gar keiner Religion angehören und Religion als Phänomen rundweg ablehnen, möchte ich es mal ernst nehmen. Meine Antwort auf die Gleichbehandlungsfrage lautet: Jein! Denn hier geht es um Signifikanz und Pragmatik.
Der Nein-Anteil geht auf die Signifikanz: In Europa wird das Christentum als eine der drei Säulen europäischer Identität – neben griechischer Philosophie und römischem Recht – in besonderer Weise bevorzugt, eben weil es eine Quelle europäischer Identität ist. Und weil zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des deutschen Grundgesetzes (1949) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (1950) grob geschätzt 95% der Europäer Christen waren. Da die Mütter und Väter des GG und der EMRK in erster Linie das Christentum meinten als sie „Religion“ schrieben, darf man die Normen zur Religionsfreiheit auch heute noch in diesem Sinne ausdeuten und der Mehrheitsreligion mir ihrem großen Einfluss auf das, was wir heute sind, einen Vorrang gegenüber anderen Religionen einräumen. Das bedeutet nicht, dass das ewig so bleiben muss. Sollte einmal – und einiges spricht dafür – eine zweite Religion in Europa in signifikanter Größenordnung neben das Christentum treten, dann müsste in Einzelfällen in der Tat geschaut werden, ob und wie sich das auch ikonographisch niederschlagen könnte. Es ist gut, dass auch andere als die „angestammte“ Religion des Christentums nach Repräsentation im öffentlichen Raum ausgreifen (man denke an die Frage des Neubaus von Moscheen). Solange aber eine Religion vom Volk getragen wird, kann sie gegenüber Religionen, die keine Rolle im öffentlichen Leben spielen, bevorzugt werden. Es ist zum Beispiel nicht einzusehen, dass den Schulen in einem Land wie Italien mit einem Katholikenanteil von 80% grundsätzlich das Kreuz genommen werden soll, auch wenn in einigen Städten 100% der Eltern und Schüler das Kreuz im Klassenzimmer wünschen. Es geht freilich um Minderheitenschutz. Dieser darf aber nicht zum systematischen Nachteil der Mehrheit werden. Meiner Meinung wäre es zudem im Gegenzug konsequent, Religionsfreiheit in diesem Sinne auch dort einzufordern, wo Christen in Minderheitskommunitäten leben, obgleich sie oft viel länger in den betreffenden Regionen präsent sind als der dort nunmehr vorherrschende Islam. Hier beraubt sich der „weltanschaulich neutrale“ Staat mit der systematischen Ausgrenzung von Religion aus der eigenen Gesellschaft selbst seines Einflusses und verbaut sich damit die Chance, Konflikte klar zu benennen, ehe diese gewaltsam werden. Religiöse Konflikte gehören aber auf die Tagesordnung internationaler Beziehungen. Dazu gehört aber zunächst, Religion als öffentliche Angelegenheit ernst zu nehmen. Wenn der Westen hier die „Neutralitätsauffassung“ vertritt, tut er den Menschenrechten, religiösen Minderheiten und am Ende sich selbst keinen Gefallen.
Der Ja-Anteil richtet sich auf die Pragmatik: Selbstverständlich unterliegt in einer pluralen Gesellschaft auch die angestammte Religion Einschränkungen, da die Ressourcen dieser Gesellschaft endlich sind. Bei allen Freiheitsrechten gibt es diese Einschränkungen, die der Pragmatik öffentlicher Ordnung und dem Gemeinwohl geschuldet sind. Man darf gegen Atomkraftwerke demonstrieren, aber nicht jeden Tag auf der A 2 zwischen Hannover und Berlin. Wenn man aber nun meint, das Demonstrationsrecht abschaffen zu sollen, weil es de facto nicht möglich ist, alle Anträge auf Kundgebungen im öffentlichen Raum positiv zu bescheiden, dann beginge man einen schweren Fehler, den man – eingedenk der Tendenzen in der Rechtsprechung – beim Recht auf Religionsausübung gerade dabei ist zu machen.
Religion zwischen Staats- und Privatsache
Religion ist im modernen Europa nicht mehr „Staatssache“, das ist klar. Daraus folgt aber nicht zwingend, dass Religion ausschließlich „Privatsache“ ist. Die Ebene dazwischen, der öffentliche, also weder gänzlich staatliche noch gänzlich private Raum, würde in der Position „Religion ist Privatsache.“ auf wundersame Weise verschwinden und in einem sehr weit gefassten Staatsbegriff untergehen, in einem Konzept von Staatlichkeit, das „totalitär“ genannt werden muss. Die Alternative „Religion ist Zwangssystem.“ oder „Religion ist Privatsache.“, die oft plakativ aufgezeigt wird, ist nur vor dem Hintergrund eines wiederum totalitären Religionsverständnisses nachvollziehbar. Religion kann im öffentlichen Raum aber mehr, als unterdrückend wirken.
Auch die Religionsfreiheit ginge mit dem Verbot religiöser Betätigung in der Öffentlichkeit unter, zumindest gemessen an der oben skizzierten Auslegung. Das allein wäre in der Folge nicht schlimm, wird Religion doch in jedem Fall (als Meinung nämlich) aufgefangen von der Meinungsfreiheit. Religion unter die Meinungen und Religionsfreiheit unter die Meinungsfreiheit zu subsumieren, wird zwar, nach dem, was ich oben ausgeführt habe, der historischen Bedeutung von Religion und Religionsfreiheit nicht gerecht, aber eine Gesellschaft ist nicht gezwungen, auf die Genese und Geschichte ihrer Bezugssysteme irgendeinen Wert zu legen, obgleich die Gesellschaften europäischer Staaten gut beraten wären, dies auch künftig zu tun.
Diskussion und Toleranz statt Verbannung
Auch wenn Religion nur eine Meinung unter vielen sein soll, spricht alles für die Möglichkeit einer öffentlichen Rolle der Religion und – wie ich meine – auch für das Kreuz im Klassenzimmer, soweit es keine begründeten Bedenken einzelner Schüler bzw. deren Eltern gibt, denn Meinungsfreiheit meint ja das Recht, eine Meinung zu äußern, nicht das Recht, von Meinungsäußerungen verschont zu bleiben. Wenn nun die überwiegende Mehrheit die dauernde Meinungsäußerung, die aus dem Kreuz spricht, für so wertvoll hält, dass sie diese täglich vor Augen geführt bekommen möchte, dann müssten die Kreuze, auch an staatlichen Schulen, bereits aus Gründen der Meinungsfreiheit hängen bleiben, ohne jede Berücksichtigung der Religionsfreiheit.
Wie könnte eine Lösung jenseits politischer und juridischer Schlachten in den Schulen aussehen? Ganz praktisch könnte eine Lösung darin bestehen, dass man in der Klasse diskutiert und als Klasse entscheidet, unter welchen Symbolen man warum lernen möchte. Die Diskussion dazu wäre sicher spannend und die Schüler könnten viel über die Bedeutung religiöser Symbole erfahren, egal, wie sie sich letztlich entscheiden. Durch die Sitzordnung könnte man zudem das „Schlimmste“ verhindern, dass also jemand einem Symbol ausgesetzt ist, das ihm (oder den Eltern) unzumutbar erscheint. Ich glaube, wenn viele Menschen sehr viel darüber wissen, was dem Anderen das Symbol bedeutet, was etwa ein gläubiger Christ im Kreuz erkennt, dann könnte das auch helfen, über den Schatten eigener Vorstellungen zu springen.
Copyright Josef Bordat
Der Artikel wurde am 27.04.2010 in einer Erstfassung von rp-online veröffentlicht: → "Religionsfreiheit. Religiöse Symbole in Staat und Gesellschaft."
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Zum Autor
Der Autor des Artikels, Josef Bordat, geb. 1972, studierte Wirtschaftsingenieurwesen (Dipl.-Ing.), Soziologie und Philosophie (M.A.) in Berlin. Er promovierte zum Dr. phil. und ist derzeit freier Publizist und Dozent. Mehr Informationen: http://josefbordat.wordpress.com
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