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Offener Brief an den Präsidenten des BGH

25. November 2007 von Jörg Großelümern / Netzwerk Bildungsfreiheit — Offener Brief an den Präsidenten des BGH

Sehr geehrter Herr Präsident,

das jüngste Urteil des XII. Zivilsenats des BGH über die Zulässigkeit des Sorgerechtsentzugs im Fall einer zu Hause lernenden Familie hat international Befremden und Entsetzen ausgelöst. Es zeugt von einem Anachronismus und einer Weltfremdheit, die in dieser Form wohl einzigartig sein dürften.

Das Gericht rezitiert in seinem Beschluss weitestgehend Passagen aus einem Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts von vor einigen Jahren, in dem die Gefahr der Entstehung von Parallelgesellschaften heraufbeschworen wird und die angeblich fehlende Sozialisation und Integration zu Hause lernender Schüler beanstandet werden.

Diese Begründungen für die Unterdrückung außerschulischen Lernens werden gebetsmühlenartig von Behörden und unteren Gerichten bemüht, um Formen schulfreier Bildung mit harten Maßnahmen zu unterdrücken. Von der Sache her werden sie dem weltweiten Phänomen des freien selbstbestimmten Lernens außerhalb des Schulgebäudes indes in keinster Weise gerecht, vielmehr hätte eine gründliche, sachbezogene Beschäftigung mit der Thematik durch das Bundesverfassungsgericht oder auch den Bundesgerichtshof zu vollständig anderen Ergebnissen geführt.

Parallelgesellschaften zeichnen sich aus durch eine eigene Sprache, eigene Rechtsnormen und eigene politische, soziale und juristische Parallelstrukturen neben der eigentlichen Gesellschaft, in der sie leben. Wo haben Homeschoolfamilien je derartige Parallelgesellschaften gebildet und wo sind sie zur Gefahr für die Allgemeinheit geworden? Kann dies vom Gericht nachweisbar verifiziert werden? Wo ist die Parallelgesellschaft der Homeschooler in den USA mit geschätzten 2,2 Millionen zu Hause lernender Kinder, wo ist sie in Großbritannien mit schätzungsweise 160.000 Home Educators, wo in Frankreich mit mehreren tausend Familien, die außerhalb der Schule lernen? Wo in Kanada, Australien, Dänemark, Finnland, Österreich, Norwegen, Belgien, etc? Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Selbst die Slowakei als letztes Land in der EU neben Deutschland hat jetzt in einer Gesetzesänderung beschlossen, Homeschooling ab 2008 zu legalisieren. Machen sich alle diese Länder einer Kindeswohlgefährdung schuldig? Sind alle diese Staaten durch gefährliche fundamentalistische Parallelgesellschaften bedroht? Handelt es sich in dieser Aufzählung durchweg um Länder mit miserablen Bildungssystemen, die unsozialisierte Analphabeten hervorbringen? PISA-Sieger Finnland kann es sich leisten, Bildungsvielfalt zuzulassen und Homeschooling frei gewähren zu lassen – mit ausgezeichneten Erfolgen. Deutschland befindet sich in einer isolierteren Außenseiterposition als je zuvor. Kein Land der westlichen Hemisphäre konstruiert bei Freilernern eine Kindeswohlgefährdung, die einen Sorgerechtsentzug rechtfertigen würde.

Zum Vorwurf der fehlenden Integration und Sozialisation der Homeschooler möchte ich Sie fragen: Wie und womit begründen Sie die Behauptung, dass der Erwerb von Sozialkompetenz nur im Rahmen der öffentlichen Schule möglich sei? Führt die dort stattfindende Sozialisation nicht vielmehr oft zu einem angepassten Mitläufertum, zum Durchsetzen des Rechts des Stärkeren, zu Konformismus und Uniformität als zu eigenständigen gefestigten Persönlichkeiten?

Internationale Studien haben mehrfach belegt, dass Homeschooler in der Regel eine bessere Sozialkompetenz aufweisen als ihre gleichaltrigen Mitschüler in den öffentlichen Schulen, weil sie zum einen meist in einer intakten Familie leben und dort die beste Grundlage für ihr Leben erhalten und zum anderen durch vielfältige außerhäusliche Kontakte wie Sportverein, Musikgruppe, Kirchengemeinde, Freundeskreis etc. soziale Kompetenz auf allen Ebenen erwerben.

Freilernende Kinder sind nach einer US-Studie überdurchschnittlich sozial engagiert, politisch interessiert und glücklicher im Leben. Dagegen hat eine brandaktuelle Studie aus Deutschland, die in der letzten Woche veröffentlicht wurde, folgendes ergeben:

„Die Kinder in Deutschland empfinden in ihren Familien im hohen Maß Geborgenheit und Glück – und zwar quer durch die sozialen Schichten. Die Schule erscheint ihnen dagegen mit zunehmendem Alter als düstere Gegenwelt, als „Glückskiller Nummer eins". Dies ist das überraschend zwiespältige Ergebnis der ersten Studie, die das Glücksempfinden der vier- bis zwölfjährigen Kinder untersucht.“ (WELT AM SONNTAG vom 11.11.2007)

Da muss es umso mehr verwundern, ja empören, wenn der Bundesgerichtshof mit jenem unsäglichen Urteil mit dazu beiträgt, die Familie weiter zu zerstören, intakte Eltern-Kind- Beziehungen auseinander zu reißen und eine Schulzwangspolitik bestätigt, die nicht nur einen Rückschritt zu obrigkeitsstaatlichem, feudalistischem Denken bedeutet und international isoliert ist, sondern auch dem Kindeswohl in keiner Weise gerecht wird, weil sie weder auf deren Bedürfnisse eingeht noch nach dem Willen des Kindes fragt.

Damit missachtet der Bundesgerichtshof nicht allein die Elternrechte, sondern in eklatanter Weise auch die Kinderrechte. Zuletzt wird auch gegen internationale Vorgaben verstoßen. UN-Sonderbeauftragter Vernor Munoz de Villalobos schrieb 2007 in seinem Bericht über das deutsche Bildungssystem:

„... muss daran erinnert werden, dass Bildung nicht auf Schulanwesenheit reduziert werden kann und stets auf das Wohl des Kindes ausgerichtet sein muss. Alternativen wie Fernunterricht und "homeschooling" sind mögliche Optionen, die unter gewissen Umständen in Betracht kommen können, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass nach Artikel 13 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Eltern das Recht zukommt, die angemessene Bildung für ihre Kinder zu bestimmen. Die Förderung und Stärkung des öffentlichen und staatlich finanzierten Bildungssystems darf nicht dazu führen, Modelle ohne physische Präsenz im Schulgebäude anzuprangern. In diesem Sinne
wurden dem Sonderberichterstatter Klagen über Drohungen mit dem Entzug des elterlichen
Sorgerechts zur Kenntnis gebracht, weil Kinder in "homeschooling"-Modellen unterrichtet
werden.“

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass die derzeitige Bildungsministerin Frau Dr. Annette Schavan auf eine Anfrage im baden-württembergischen Landtag zu dieser Problematik wie folgt geantwortet hat:

Von Bedeutung ist, dass es diesen Kindern ansonsten in aller Regel an nichts mangelt, so dass die Jugendämter auch keine Veranlassung sehen, den Entzug des Sorgerechts einzuleiten. (Annette Schavan in einer Stellungnahme des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport vom 10. Juli 2002 Nr. 41–6601.0/306/1)

Diese Feststellung deckt sich mit der Erfahrung fast aller lokalen Jugendämter, die Homeschoolfamilien unmittelbar kennen gelernt haben und keine Kindeswohlgefährdung feststellen können.

Ich bitte Sie, sehr verehrter Herr Präsident, diese verheerende Fehlentscheidung des XII. Zivilsenats zu überdenken und zu einer Rechtssprechung zurückzukehren, die einem freiheitlichen Rechtsstaat würdig und dem Kindeswohl angemessen ist. Ich möchte Sie und die beteiligten Richter bitten, sich sachlich und umfassend mit der Bildungsalternative Homeschooling auch auf internationaler Ebene zu beschäftigen, anstatt vorgefertigten Klischees zu folgen, die der Sache nicht gerecht werden.
Das Netzwerk Bildungsfreiheit steht Ihnen gern jederzeit für ausführliche Informationen zum Thema zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen
Netzwerk Bildungsfreiheit
Der Vorstand