23.06.09
Die ethische Problematik der Schwangerschaftskonfliktberatung (Teil I)
von Rainer Mayer
1. Die Fakten
1.1. Geschichtliches
Das Thema „Schwangerschaftsabbruch“ begleitet, so weit ersichtlich, die Menschheitsgeschichte. „Dabei wird von alters her eine Vielfalt von Abtreibungsmethoden (med., physisch-gewaltsame, magische) und Abtreibungsmitteln (innere, äußere) eingesetzt.“[1] Medizinisch wird der lateinische Ausdruck „interruptio“ gebraucht, was wörtlich übersetzt „Unterbrechung“ bedeutet. Von daher leitet sich die falsche Bezeichnung „Schwangerschafts-unterbrechung“ ab – als ob die Schwangerschaft anschließend fortgesetzt würde
[2]. Volkstümlich wird von „Abtreibung“ gesprochen; mit welchen Mitteln, bleibt dabei offen. Dieser Begriff ist jedenfalls nicht falsch. Der Kürze halber kann man sich seiner durchaus bedienen.
In der heidnischen Umgebung, in die das frühe Christentum hineinwuchs, wurden Schwangerschaftsabbruch und Kindesaussetzungen weitgehend geduldet. Es gab aber auch Gegenbewegungen. Der Eid des Hippokrates (um 400 v. Chr.) verbietet dem Arzt, eine Abtreibung vorzunehmen. In Rom war Schwangerschaftsabbruch zunächst straflos, da der Embryo als „Teil der Frau“ (portio mulieris) galt. Seit dem 3. Jahrhundert wurde er als Delikt gegen den Mann bestraft, weil damit berechtigte Nachwuchshoffnungen zerstört wurden. – An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Abtreibungsfrage stets in den gesellschaftlichen Zusammenhang hineinspielt und nicht isoliert als Angelegenheit der Frau betrachtet werden kann. Der moderne Individualismus ist antikem Denken fremd.
Gegenüber der heidnischen Umwelt wandte sich das junge Christentum entschieden gegen Abtreibung und Kindesaussetzung – wie überhaupt das frühe Christentum teilweise eine Kontrastgesellschaft bildete und sich nicht nur durch seine Botschaft, sondern auch durch seine Ethik von der Umgebung abhob. Pestkranke z.B. wurden nicht ausgestoßen, sondern gepflegt. Der Kontrast ruft stets beides hervor: Bewunderung und Verfolgung. Doch insgesamt wirkte die Einheit von Glaube und Leben überzeugend. – Im ca. 130 n.Chr. entstandenen Barnabasbrief heißt es: „Töte ein Kind nicht durch Abtreibung. Töte nicht das Neugeborene“ (19,5)[3]. Das in der Frage der Abtreibung lange Zeit maßgebende Konzil von Konstantinopel aus dem Jahre 692 (sog. Trullanum II) beurteilt Schwangerschaftsabbruch wie Kindestötung und fordert gleiche Strafe für beide[4].
Die Gleichstellung von Schwangerschaftsabbruch und Kindestötung kennzeichnet auch das mittelalterliche kanonische Recht. Allerdings gab es noch keine moderne Genforschung, die festhält, dass der Embryo nach der Vereinigung von Ei- und Samenzelle ein menschliches Individuum ist. Die mittelalterliche Kirche war unter Einfluss der Antike von der Frage der Beseelung bewegt. Gelehrt wurde eine Sukzessivbeseelung[5]. Unter Bezug auf Aristoteles wurde festgelegt, dass der männliche Embryo 40 Tage nach der Empfängnis, der weibliche 80 Tage nach der Empfängnis mit einer anima sensitiva beseelt wird. Dem gemäß hob Papst Gregor XIV (1590 – 1591) die Strafen gegen Personen, die einen jüngeren als 40 Tage alten Embryo abgetrieben hatten, wieder auf; denn dieser galt als noch nicht mit einer anima sensitiva beseelt.
Die Reformatoren wandten sich gegen die Abtreibung. Luther verstand die Zeugung eines Kindes als „Gottesdienst“ und trat für den Schutz der „Frucht“ ein[6]. Calvin hielt unter Bezug auf 2Mose 21,22 (= Strafzahlung für eine durch Streit unter Männern bei einer Frau entstandenen Fehlgeburt) klar fest: „Denn auch das Kind im Mutterleib ist schon ein Mensch“.[7]
In der frühen Neuzeit stand der Schwangerschaftsabbruch unter staatlich-gesetzlicher und kirchlicher Strafe[8]. Die Gleichsetzung von Schwangerschaftsabbruch und Kindestötung wurde im 19. Jahrhundert fallen gelassen, wobei die Kindestötung stärker bestraft wurde als Schwangerschaftsabbruch.
Neue Konflikte entstanden durch die industrielle Revolution mit der Verarmung des Proletariats. Kinder, die in der landwirtschaftlichen Lebensweise den Wohlstand meist nicht minderten, sondern sehr bald als Hilfskräfte eventuell sogar zu dessen Mehrung beitrugen, konnten nun zur großen finanziellen Last werden, die auch durch unmenschliche Kinderarbeit in den Fabriken nicht auszugleichen war. Beginnend mit sozialistischen Stimmen im 19. Jahrhundert und gestützt auf große Zahlen illegaler und für Frauen gefährlicher Abtreibungen im Verborgenen (u.a. durch sogenannte „Engelmacherinnen“), wurden Anfang des 20. Jahrhunderts die Stimmen immer lauter, die eine Freigabe der Abtreibung forderten. Es waren meist Proletarierfrauen, kaum Frauen höherer Gesellschaftsschichten, die wegen Abtreibung bestraft wurden.
Die feministische Position stellt die Autonomie der Frau in den Vordergrund und versteht die alleinige Verantwortung der Frau als einen Ausdruck der Menschenwürde. Innerhalb der Frauenbewegung sind die Stimmen pro und contra Abtreibung unterschiedlich. Auf jeden Fall soll die betroffene Frau allein und souverän entscheiden. Das Motto lautet: „Mein Bauch gehört mir“.
Im 20. Jahrhundert ging der gesellschaftliche Trend weltweit in Richtung auf eine Freigabe der Abtreibung. Die sozialistischen Staaten führten als erste ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch ein; 1955 die damalige Sowjetunion, 1972 die damalige DDR. Begründet wurde dies mit der Gleichberechtigung der Frau und ihrer ebenfalls gleichberechtigten Integration in den Arbeitsprozess. So kennen wir ja noch Bilder aus den damaligen sozialistischen Ländern von Frauen am Presslufthammer im Straßenbau. – Da keine anderen sicheren Verhütungsmittel zur Verfügung standen, diente die Abtreibung auch als Mittel der Bevölkerungspolitik, so im kommunistischen China, wo sogar Zwangabtreibungen durchgeführt wurden.
In den westlichen Ländern, in denen kein Recht auf Abtreibung begründet wurde, sondern der Schwangerschaftsabbruch unter Vorbehalt bleiben sollte, gab es zwei Wege, die nach wie vor die grundsätzlichen juristischen Modelle darstellen: Die Ermöglichung des Schwangerschaftsabbruchs aufgrund einer Fristenregelung oder aufgrund einer Indikationenlösung. Die Fristenregelung ist dabei die einfachere Form. Sie wurde von 1967 an in einigen westlichen Staaten, darunter USA und Großbritannien, eingeführt. – Zu dieser Problematik später mehr.
1.2. Biblische Hinweise
Die Frage des Schwangerschaftsabbruchs wird in der Bibel nicht direkt angesprochen. Erwähnt wurde in diesem Zusammenhang bereits 2Mose 21,22 ff. aus dem sogenannten „Bundesbuch“, in dem in Entfaltung des Dekalogs (=der Zehn Gebote) auf dem Hintergrund einer agrarischen Gesellschaft kasuistische Rechtsregeln festgelegt werden. Nach dem Bundesbuch soll bei körperlichen Verletzungen das „ius talionis“ angewandt werden, nämlich Gleiches mit Gleichem zu ahnden. So finden wir hier den (oft bösartig missdeuteten) Grundsatz „Auge um Auge, Zahn um Zahn...“ (2Mose 21,24; vgl. 5Mose 19,21). Ziel ist die Verhinderung der Blutrache bei ausgleichender Gerechtigkeit. Was modernes Empfinden dabei abschreckt, sind die Körperstrafen. Körperstrafen werden aber auch hier nur für leibliche Vergehen angedroht. (Ein Abhacken der Hand für Diebstahl z.B. und dergleichen findet sich in der Bibel nicht.)
So lautet es wörtlich 2Mose 21,22-24:
„Wenn zwei Männer miteinander raufen und sie verletzen dabei eine schwangere Frau, so dass eine Fehlgeburt eintritt,...so soll es mit Geld gebüßt werden; was der Ehemann dem Täter auferlegt, das soll dieser geben für die Fehlgeburt. Entsteht aber ein weiterer Schaden [gemeint ist die Verletzung der Frau und werdenden Mutter], so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn...“
Wir sehen:
Vor allem kennt die Bibel keine Beseelungslehre. Sie vertritt stets ein ganzheitliches Menschenbild. Stellen wie Jeremia 1,5, Psalm 139,15 und Hiob 10,10-12 zeigen, dass Gott den Menschen von Anfang an, schon im Mutterleib kennt, ihn sieht, würdigt und auch beruft. Lukas 1,40-45 lesen wir, dass das Kind Johannes bei der Begegnung Elisabeths mit Maria im Leibe seiner Mutter hüpfte, als die beiden Frauen einander grüßten. Dies wird als vorgeburtliches Erkennen Jesu durch Johannes gedeutet. – Wir erkennen durchweg die biblische Auffassung, dass die Leibesfrucht auch vorgeburtlich in Gottes Augen als vollwertiges menschliches Wesen gilt.
Deshalb tritt biblisch im Blick auf Schwangerschaftsabbruch uneingeschränkt das Gebot „Du sollst nicht töten“ (wörtlich: „du sollst nicht morden“) in Kraft. Die Frage, ab wann ein Mensch als Mensch zu werten sei, wird biblisch klar beantwortet, nämlich von Anfang an im Mutterleib. Dies entspricht den modernen biologischen Erkenntnissen: Das individuelle, einmalige, nicht verwechselbare Genom, mithin die Identität des Menschen, ist nach Vereinigung von Ei- und Samenzelle endgültig festgelegt.
Die Spekulationen um bestimmte Fristen der Beseelung sind erledigt. Veraltet und erledigt ist auch die Ansicht von Ernst Haeckel, der 1866 mit der Formel: „Ontogenese = Phylogenese“ die „biogenetische Grundregel“ aufstellte, die behauptet, ein Embryo durchlaufe im Mutterleib alle Stufen der Evolution, erst niedrigerer, dann pflanzen-, dann tierähnlicher Formen, bis er schließlich menschenähnliche Gestalt annehme. Das war eine Art Beseelungslehre in naturwissenschaftlichem Gewand. Sie hat viel zur Forderung der Freigabe der Abtreibung beigetragen. Sie ist aber völlig falsch.
Nach biblischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnis gilt: Das individuelle menschliche Genom ist mit dem Zeitpunkt der Zeugung festgelegt. Der Mensch entwickelt sich vorgeburtlich nicht zum Menschen, sondern als Mensch[9]. Diese unbezweifelbare Tatsache hat juristische Konsequenzen.
1.3. Rechtliche Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland
Bis zum Jahre 1974 war Abtreibung durch § 218 Strafgesetzbuch (=StGB) verboten. Es gab nur eine Ausnahme, die medizinische Indikation. Damit war das Vorliegen einer ernsten Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der werdenden Mutter gemeint. Der Schwangerschaftsabbruch galt für diese Situation als „übergesetzlicher Notstand“.
Diese Rechtslage wurde – zurückgehend auf Initiativen von SPD und FDP – durch das 5. Strafrechtsreformgesetz vom 18. Juni 1974 zugunsten einer Fristenregelung geändert. Eingeführt wurde ein § 218a, wonach ein von einem Arzt vorgenommener Schwangerschaftsabbruch straffrei bleibt, wenn seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen verstrichen sind. Bedingung war jedoch, dass der Arzt oder eine Beratungsstelle die Schwangere zuvor über öffentliche und private Hilfen für Schwangere, Mütter und Kinder unterrichtete.
Gegen diese Regelung klagten fünf CDU-regierte Länder beim Bundesverfassungsgericht. In der Tat entschied das Bundesverfassungsgericht am 25. Febr. 1975, dass die Fristenregelung grundgesetzwidrig ist. Markante Sätze des Urteils lauten: „Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu, nicht erst dem menschlichen Leben nach der Geburt oder bei ausgebildeter Personalität.“ Das Verfassungsgericht entschied: Damit ist „auch das sich im Mutterleib entwickelnde Leben als selbständiges Rechtsgut“ geschützt. Weiter stellte das Verfassungsgericht fest: Der mit der Empfängnis „begonnene Entwicklungsprozess ist ein kontinuierlicher Vorgang, der keine scharfen Einschnitte aufweist und eine genaue Abgrenzung der verschiedenen Entwicklungsstufen des menschlichen Lebens zulässt. Er ist auch nicht mit der Geburt beendet...“. Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Das Wort „jeder“ in diesem Sinn umfasst „daher auch das noch ungeborene menschliche Wesen“. Da Abtreibung „unwiderruflich entstandenes menschliches Leben“ zerstört, handelt es sich klar um eine „Tötungshandlung“ und verstößt mithin „gegen die in Artikel 2, Abs. 2, Satz 1 GG verbürgte grundsätzliche Unantastbarkeit und Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens“[10].
Nach diesen klaren Worten des Verfassungsgerichtes beschloss der Bundestag am 21. Juli 1976 mit dem 15. Strafrechtsänderungsgesetz eine Indikationenlösung. Indikationen sollen eine Art „übergesetzlichen Notstand“ feststellen, wie er bis dahin für die medizinische Indikation galt. Das Indikationenmodell hat den Vorteil, dass es im Prinzip am Schutz des ungeborenen Lebens als eines unantastbaren Rechtsgutes festhält; aber eben nur im Prinzip. Alles konzentriert sich auf die Frage nach den Indikationen, der Wertung ihrer Gewichtigkeit und nach dem Wege einer objektivierenden Prüfung des Einzelfalles, damit eine Güterabwägung – die so oder so eine Notlösung bleibt – geschehen kann.
Man unterscheidet folgende Indikationen:
Wer testiert nun diese Indikationen?
Für eine medizinische Indikation sind zweifellos die Ärzte zuständig.
Dies gilt ebenfalls für die eugenische oder kindliche Indikation. (Hier entstehen allerdings ethische Bedenken: Welcher Grad der Behinderung entzieht einem Menschen das Lebensrecht? – Das Verbot der Diskriminierung Behinderter führte übrigens dazu, dass bei der letzten großen Strafrechtsreform 1995 diese Indikation, auch „embryopathische Indikation“ genannt, fallengelassen wurde. Dies hat jedoch keine praktische Bedeutung, da sie einfach in die medizinische Indikation integriert wurde. Nach Herbert Tröndle „ein Akt gesetzgeberischer Verhüllungskunst“[11].) Hiermit hängt auch das erwähnte zunehmende Problem der Spätabtreibungen zusammen.
Für die kriminologische / ethische Indikation ist zweifellos eine Kooperation von Polizei, Jurisprudenz und Medizin notwendig.
Wer jedoch testiert eine soziale Indikation? Die Überlegungen zur sozialen Indikation gehen auf die gewiss schwierige soziale Lage des Proletariats zur Zeit de Frühkapitalismus zurück. Doch diese Zeit ist längst vorbei! – Noch 1961 schrieb der Chefarzt der Frauenklinik in Minden, Prof. Dr. Hans-Werner Vasterling: „Die Berechtigung einer sozialen Indikation für die Schwangerschaftsunterbrechung (sic!) ist immer wieder heftig diskutiert worden. Die soziale Indikation ist weder in der BRD noch in der DDR anerkannt. ‚Die Ärzteschaft kann – bei allem menschlichen Verständnis der Zusammenhänge – unter keinen Umständen die soziale Indikation anerkennen... Ihre Anerkennung würde praktisch die Freigabe...der Abtreibung bedeuten’.“[12]
Die Brücke zur allgemeinen Zulassung der sozialen Indikation schlug das Verfassungsgericht selbst. Nachdem es 1975 die Fristenregelung als grundgesetzwidrig verworfen hatte, stellte es in seinen Empfehlungen dem Gesetzgeber anheim, die Abtreibung straffrei zu lassen, wenn die Fortsetzung der Schwangerschaft für die Frau „unzumutbar“ sei. Wer aber stellt diese „Unzumutbarkeit“ fest? – Nach der nun geltenden Rechtslage niemand anderes als die Schwangere selbst! Keine gesellschaftliche Institution, kein Arzt, kein Richter, kein Sozialarbeiter, kein Verwandter; nicht einmal der beteiligte Mann – und sei es der Ehemann – darf verbindlich etwas darüber aussagen, ob eine „soziale Indikation“ angezeigt ist. Hiermit wurde das feministische Prinzip „mein Bauch gehört mir“ voll durchgesetzt und das Thema „Kind und Geburt“ vollkommen individualisiert und aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang herausgelöst, paradoxerweise unter dem Begriff „sozial“!
Kein Wunder, dass der Gesetzgeber mit dem 15. Strafrechtsänderungsgesetz vom 18. Mai 1976 nach dieser Möglichkeit gegriffen hat. Die Abtreibung war von nun an innerhalb der ersten 12 Wochen straffrei unter Vorgabe der gesamten Indikationsliste einschließlich sozialer Indikation, wenn die Schwangere sich vorher durch einen Arzt oder eine anerkannte Beratungsstelle in öffentlicher oder freier Trägerschaft hatte beraten lassen. Ein Arzt, der den Eingriff nicht selbst vornahm, musste die Voraussetzung einer Indikation bestätigen. Die Beratung musste mindestens drei Tage vor dem Eingriff stattfinden.
Bis zur nächsten Reform im Jahre 1992 wurden dann jährlich fast 90% aller Abtreibungen mit einer „sozialen Indikation“ begründet. Die Kosten übernahm die Krankenkasse oder die Sozialhilfe.
Nach der deutschen Vereinigung im Jahre 1990 war die Rechtslage zunächst uneinheitlich, denn in den östlichen Bundesländern galt die Fristenregelung, die 1972 in der DDR eingeführt worden war. Die westlichen Unterhändler hatten sich im Einigungsvertrag mit der Forderung nach Übernahme des Indikationsmodells nicht durchsetzen können. Da die Fristenlösung aber vom Verfassungsgericht verworfen war und das Grundgesetz aber nun für beide Teile Deutschlands galt, musste eine allseits gültige Lösung gefunden werden. Deshalb wurde in Artikel 31, Abs. 4 des Einigungsvertrages dem künftig gesamtdeutschen Gesetzgeber aufgetragen, „spätestens bis zum 31. Dezember 1992 eine Regelung zu treffen, die den Schutz vorgeburtlichen Lebens und die verfassungskonforme Bewältigung von Konfliktsituationen schwangerer Frauen vor allem durch rechtlich gesicherte Ansprüche der Frauen, insbesondere auf Beratung und soziale Hilfen, besser gewährleistet, als dies in beiden Teilen Deutschlands bisher der Fall ist“[13].
Mit 355 Ja-, 283 Nein-Stimmen und 16 Enthaltungen verabschiedete der Bundestag am 26. Juni 1992 das „Schwangeren- und Familienhilfegesetz“. „Damit sprach sich eine deutliche Mehrheit für den Gruppenantrag aus, den eine große Anzahl von SPD- und FDP-Abgeordneten zusammen mit einigen Parlamentariern und Parlamentarierinnen von CDU und Bündnis 90/Die Grünen eingebracht hatte. Er sah vor, dass Abtreibungen in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten straffrei bleiben, wenn sich eine Frau in einer ‚Not- und Konfliktlage’ mindestens drei Tage vor dem Eingriff beraten ließ. Flankierende soziale Maßnahmen sollten die Entscheidung für das Kind erleichtern[14].
Ein Einspruch gegen diese Lösung beim Verfassungsgericht erfolgte auf Antrag der bayerischen Landesregierung sowie einer Mehrheit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Daraufhin erklärte das Verfassungsgericht am 28. Mai 1993 auch diese Regelung für verfassungswidrig, aber nur deshalb, weil die „beratenen Abbrüche“ im Gesetz als „nicht rechtswidrig“ bezeichnet worden waren.
Zwei Jahre später, am 29. Juni 1995, beschloss der Bundestag in der vorläufig letzten Reform des § 218 Strafgesetzbuch das derzeit gültige „Schwangeren- und Familienhilfegesetz“. Der Gesetzgeber vermied nun die Kennzeichnung der Abtreibung als „nicht rechtswidrig“, vermied es aber auch, sie als „rechtswidrig“ zu bezeichnen, wie es das Verfassungsgericht getan hatte. Sondern er erklärte in § 218a, Abs. 1 StGB, dass eine Abtreibung, die von einem Arzt innerhalb von 12 Wochen nach der Empfängnis unter Vorlage eines Beratungsscheines vorgenommen wird, nicht den Tatbestand des § 218 StGB erfülle, welcher eine Abtreibung verbietet.
Durch diese Sophistik soll dem Buchstaben des Grundgesetzes entsprochen werden, während seinem Geist eine Absage erteilt wird. Praktisch handelt es sich um eine Freigabe der Abtreibung. Nicht einmal von einer Pflicht der Schwangeren, sich ernsthaft einer Beratung zu unterziehen, kann die Rede sein. „Vielmehr verpflichtet das Gesetz nur dazu, dass die Schwangere eine anerkannte Konfliktberatungsstelle aufsucht, diese ihr das Angebot einer Beratung macht, das die Frau ablehnen kann, und ihr in jedem Fall ein Beratungsschein erteilt wird, auch wenn das mit ihm Bescheinigte nicht der Wahrheit entspricht. Wir haben folglich in Wirklichkeit keine Fristenregelung mit Beratungspflicht, sondern eine solche mit Beratungsangebot, Scheinberatungs- und Bescheinigungspflicht.“[15]
Der Osnabrücker Sozialethiker Manfred Spieker urteilt: „Der Strafbestand der Tötung eines ungeborenen Kindes wird mithin durch eine gesetzliche Definition nach Beratung zu einer strafrechtlich erlaubten Handlung und durch einen Beratungsschein zu einer medizinischen Dienstleistung, obgleich das verfassungsrechtliche Verbot der Abtreibung nicht angezweifelt werden kann. In die strafrechtliche Dogmatik war dieser Tatbestandsausschluss nicht integrierbar.“[16] – Spieker stellt zusammenfassend fest: „Die Entwicklung des Abtreibungsstrafrechts von 1992 bis 1995 zeigt, dass weder der Gesetzgeber noch das Bundesverfassungsgericht bereit waren, die bioethische Grenze zu verteidigen, die das Grundgesetz der Demokratie in Deutschland gesetzt hatte. Das Gericht folgte der Mehrheit des Parlaments, die wiederum davon ausging, dass die öffentliche Meinung nicht mehr hinter dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes stehe. Ernst Benda, von 1971 bis 1983 selbst Präsident des Bundesverfassungsgerichts, tadelte die Richter für ihre verfassungswidrige Anpassung. Selbst wenn die Einschätzung der öffentlichen Meinung richtig gewesen wäre, so Benda, hätte das Gericht die von der Verfassung geschützten grundlegenden Wertvorstellungen verteidigen müssen, statt sie preiszugeben. Der Paradigmenwechsel im Abtreibungsstrafrecht, das sich unter der Hand immer mehr zu einem Abtreibungsrecht entwickelt, stellte das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren über dass Lebensrecht des Kindes. Dass dies für die ungeborenen Kinder verhängnisvolle Folgen hatte, dass ihr Schutz nicht gestärkt, sondern geschwächt wurde, wird von statistischen Bundesamt jährlich dokumentiert.“[17]
Seit der sogenannten Reform des § 218 ab 1974 sind nach den offiziellen Angaben des Statistischen Bundesamtes bis 2007 in Deutschland rund 4,8 Millionen Kinder abgetrieben worden. Da nach den eigenen Angaben des Statistischen Bundesamtes nur etwa 60% der Abtreibungen statistisch erfasst werden, muss eine realistische Schätzung der Abtreibungszahlen für die 33 Jahre von 1974 bis 2007 von über 8 Millionen abgetriebenen Kindern ausgehen. Bei einer Bevölkerungszahl von rund 80 Millionen in Deutschland bedeutet das den Entzug des Lebensrechtes für 10% der Bevölkerung.
Hierzu noch einmal Manfred Spieker, der fragt: „Welche Reichweite hat die Feststellung von Art. 102 GG ‚Die Todesstrafe ist abgeschafft’, wenn jeder Arzt nach Vorlage eines Beratungsscheines gemäß § 218a Abs. 1 StGB befugt ist, ein Todesurteil zu vollstrecken, ein Todesurteil, das nicht einmal durch ein Gericht, sondern durch einen Konfliktpartner oder das ihn im Stich lassende Umfeld gefällt wird? Welche Überzeugungskraft hat ein Rechtsstaat, der dadurch definiert ist, dass er private Gewaltanwendung in Konflikten jedweder Art – mit Ausnahme einer Notwehr – verbietet und die Konflikte seiner Rechtsordnung unterwirft, wenn er diese private Gewaltanwendung in einem Schwangerschaftskonflikt nicht nur toleriert, sondern auch noch finanziert? Wird hier der Sozialstaat nicht ebenso zu einer Beute der Mehrheit wie der Rechtsstaat? Kann ein Konflikt dadurch gelöst werden, dass ein Betroffener, der mit der Entstehung des Konflikts gar nicht zu tun hat, liquidiert wird?“[18]
2. Ethische Weichenstellungen
2.1. Die Menschenwürde
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, lautet Artikel 1, Abs. 1 des Grundgesetzes. Alle weiteren Menschenrechte und Grundrechte basieren darauf, sie stellen nichts anderes als eine Entfaltung dieses Grundsatzes dar. Dass dem so ist, dokumentiert Absatz 2 des Artikels 1, der mit einem Begründungssatz formuliert ist: „Das deutsche Volk bekennt sich darum zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Die Reihenfolge lautet also: Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechte. Die Menschenwürde ist also die Basis für die Menschenrechte, und diese ihrerseits bilden die Basis für die Grundrechte. Die Menschenwürde wird nicht vom Staat geschaffen, sondern sie ist ihm vorgegeben als ein „Apriori“. Der Verfassungsgeber erfindet sie nicht, sondern er entdeckt sie. Die Bedeutung der Menschenwürde ist aus der Leidensgeschichte der Menschheit im 20. Jahrhundert erwachsen, so auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO vom 10. Dezember 1948.
Theologisch-ethisch kann man diese Tatsache nur begrüßen und in der Absolutsetzung der Menschenwürde ein Säkularisat des biblischen Glaubens erkennen, nämlich der schöpfungsgemäßen Gottebenbildlichkeit des Menschen gemäß 1Mose 1,27: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; männlich und weiblich schuf er sie.“ Damit empfing der Mensch eine einzigartige Würde.
Wenn auch die Aufklärung an der Betonung der Menschenwürde mitgewirkt hat, so ist diese doch eindeutig jüdisch-christliches Erbe, eine glückliche Wiederentdeckung biblischer Aussage im politischen Kontext.
Der Begriff der Menschenwürde im neuzeitlichen Verständnis geht auf Immanuel Kant (1724-1804) zurück: Der Mensch hat nicht einen „Wert“ – das wäre viel zu wenig – vielmehr trägt er eine unveräußerliche „Würde“, unabhängig von seinem Wert. Kant kann dabei an Intentionen der antiken stoischen Philosophie und an naturrechtliche Argumentationen aus dem Mittelalter im Kontext scholastischer Theologie anknüpfen. Da wurde die Sonderstellung des Menschen u.a. mit Vernunft und Gewissen begründet. – Doch Vernunft und Gewissen sind Qualitäten. Wenn diese entfallen, entfällt dann auch die Menschenwürde für die betreffende Person?
Erst im biblischen Zusammenhang gewinnt die Menschenwürde ihre ganze Bedeutungsfülle. Denn „Würde“ (hebräisch: dAbK.; „kabod“; griechisch: dóóo,xa „doxa“) steht in erster Linie Gott zu. Von daher fällt dann ein Licht auch auf den Menschen in seiner Gottebenbildlichkeit gemäß Psalm 8,6: „Du hast den Menschen wenig niedriger gemacht als Gottwesen (hebräisch: „Elohim“), mit Ehre und Hoheit (= hebräisch: rdhw. dAbK.; „kabod we hadar“) kröntest du ihn“ (= mit Würde und Pracht / göttlichem Glanz).
Im Sinne dieser absoluten, nicht hinterfragbaren vorgegebenen Norm ist Artikel 1, Abs. 1 von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes gemeint gewesen. Das wurde bisher im Standardkommentar zum Grundgesetz von Maunz-Dürig bestätigt. Dieser Kommentar wird von Juristen auch als „Grundbuch des Grundgesetzes“ bezeichnet: Die Menschenwürde ist unantastbar. Sie ist Staat und Gesellschaft als Absolutum vorgegeben.
Für die Kommentierung von Artikel 1, Abs. 1 zeichnete noch Günter Dürig selbst verantwortlich. Nun ist nach 45 Jahren die Kommentierung dieses Artikels durch den Juristen Matthias Herdegen neu bearbeitet worden. Ernst-Wolfgang Böckenförde, selbst ehemaliger Verfassungsrichter, hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 3. September 2003 in einem großen Artikel darauf aufmerksam gemacht, dass mit dieser Neukommentierung eine historische Zäsur im Verständnis der Menschenwürde gesetzt wurde[19]. Die Neukommentierung versteht „Menschenwürde“ nämlich nicht mehr als Apriori, sondern als ein Ergebnis abendländischer Tradition und Geschichte. Das heißt: Menschenwürde gilt nicht mehr als Absolutum und unhinterfragbar Vorgegebenes, sondern sie wird geistesgeschichtlich erklärt und damit relativiert. Gewiss gilt das Grundgesetz im Sinne positiven Rechtes, doch die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes rückt nun vom tragenden Fundament herunter zu einer Verfassungsnorm auf gleicher Ebene neben anderen Normen, die zwar selbstverständlich gelten, aber nur deshalb, weil sie nun einmal positiv-rechtlich so gesetzt worden sind.
Die Folgen sind gravierend: Ist einmal behauptet, das Verständnis der Menschenwürde sei nicht absolut, sondern ein Ergebnis geschichtlicher Entwicklung, dann kann dies Verständnis durch neue geschichtliche Entwicklungen auch überholt und verändert werden. Das findet seinen Niederschlag in einer Formulierung, die als Schlüsselsatz für die Neukommentierung von Matthias Herdegen gelesen werden kann: „Trotz des kategorialen Würdeanspruchs aller Menschen sind Art und Weise des Würdeschutzes für Differenzierungen durchaus offen, die den konkreten Umständen Rechnung tragen.“[20]
Mit den „konkreten Umständen“ öffnet sich eine „Büchse der Pandora“. Nun kann man über „Umstände“ bei Schwangerschaft , bei der Sterbehilfe usw. diskutieren. Nun kann in Frage gestellt werden, ob Menschenwürde nicht auch zu tun hat mit menschlichen Eigenschaften, die verloren gehen können, wie z.B.:
Selbstbewusstsein, Fähigkeit zur Selbstbestimmung, Reflexionsvermögen, Vernunft, Pragmatik, Streben nach Glücksmaximierung und Vermeidung von Schmerz.
Diese Kriterien nennt u.a. der bekannte australische Philosoph und Bioethiker Peter Singer in seinem Buch „Praktische Ethik“[21]. – Es ist dann klar, dass z.B. ein Koma-Patient alle diese Eigenschaften nicht hat, ebenso wenig wie ein Embryo (wobei die Frage nach der Schmerzempfindung ein eigenes Problem darstellt). Ein gesundes höheres Säugetier kann unter Umständen mehr dieser Eigenschaften aufweisen als ein Koma-Patient oder ein Embryo. Aufgrund solcher Feststellungen kann man solch paradoxe Parolen hören wie „Menschenwürde auch für Tiere“. Dem Menschen jedenfalls nur deshalb Menschenwürde zuzusprechen, weil er zur biologischen Gattung „Mensch“ gehört, nennt Singer „Speziezismus“.
Wir merken: Wenn man sich erst einmal auf die schiefe Ebene begibt, Menschenwürde zu relativieren und sie an bestimmten Kriterien festzumachen, gibt es kein Halten mehr. Ganz konsequent im Sinne seiner Logik fordert Peter Singer die aktive Sterbehilfe und die Freigabe der Abtreibung. Und damit steht er durchaus nicht allein in unserer Zeit. Hier sei nur verwiesen auf die Vereinigung „Dignitas“, die die Freigabe der aktiven Sterbehilfe fordert und ebenso an „humanistische“ Verbände, die sowohl aktive Sterbehilfe als auch die Freigabe der Abtreibung anstreben. Sie alle tun das nicht gegen, sondern im Namen der Menschenwürde, die sie jedoch gemäß den aktuellen Umständen differenziert anwenden wollen.
An dieser Stelle gilt es, von der theologischen und wahrhaft humanen Ethik her Widerstand zu leisten und an der transzendenten und biblischen Begründung der Menschenwürde in der Gottebenbildlichkeit des Menschen festzuhalten.
Ohne dass dies offiziell gesagt würde – und wahrscheinlich ist es auch gar nicht grundlegend durchdacht worden – spielt das sich unter der Hand vollziehende verändernde Verständnis der Menschenwürde ebenfalls eine Rolle bei der faktischen Freigabe der Abtreibung aufgrund eines Beratungsscheines mit sozialer Indikation. Geht es dabei um die nun neu verstandene Menschenwürde der Schwangeren? Gehört etwa zu diesem neuen Verständnis der Menschenwürde ein gewisser Lebensstandard und entsprechendes Wohlgefühl in Parallele zur Gesundheitsdefinition der WHO (Weltgesundheitsorganisation der UNO)? Da wird Gesundheit nämlich nicht nur „durch das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“ definiert, sondern auch als „ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens“[22]. Wäre also eine Schwangerschaft ohne vollständiges körperliches, geistiges und soziales Wohlergehen und Wohlbefinden eine Art Krankheit, die bekämpft werden muss oder gar ein ethischer Konflikt?
2.2. Die Konfliktsituation
An dieser Stelle geht es neben den Überlegungen zum ethischen Konflikt um die Frage kirchlicher Mithilfe bei der Ausstellung eines Beratungsscheines. – Zweifelsfrei kann eine Frau durch eine ungewollte Schwangerschaft in eine schwierige Lage geraten. Dies ist besonders dann der Fall, wenn das kommende Kind auch von der Umwelt als Belastung angesehen wird, etwa vom Vater, von den Eltern und Schwiegereltern oder der Gesellschaft allgemein. In China wurde durch Abtreibung Bevölkerungspolitik gemacht.
Bei der in Deutschland herrschenden Sozialordnung bedeutet ein Kind auf jeden Fall eine zusätzliche finanzielle Belastung. In der Regel die Mutter muss eine Zeit lang auf außerhäusliche Erwerbsarbeit verzichten, während die Erziehungszeit nur minimal zur Rente angerechnet wird! Das ist eine eklatante gesellschaftliche Ungerechtigkeit, die auch schon das Bundesverfassungsgericht kritisiert hat. Dennoch fährt die Politik stur in die entgegengesetzte Richtung und betreibt mit Milliardensubventionen für Kinderkrippen Augenwischerei. Das Geld stünde nämlich den Familien direkt als Förderung zu; und es müsste rentenwirksam sein! Die Folge der verfehlten Politik ist die demographische Krise, die sich mehr und mehr auch zur Rentenkrise auswächst, weil die Renten zahlende kommende Generation stetig schrumpft. – Ein weiteres Mal werden die Familien auf diese Weise von Staat und Gesellschaft ausgebeutet. Auch die Wirtschaft hat offensichtlich ein Interesse daran, möglichst viele Frauen auf den Arbeitsmarkt zu bringen, weil bei einem hohen Angebot von Arbeitskräften die Löhne und Gehälter gekürzt werden können. Im Unterschied zu den Anfängen der Bundesrepublik Deutschland kommt eine Familie mit nur einer außerhäuslich erwerbstätigen Person derzeit immer weniger finanziell über die Runden. In unserem Land entwickelt sich unter Abkehr von der sozialen Marktwirtschaft eine merkwürdige Mischung aus entfesseltem Kapitalismus und ideologisch-sozialistischen Praktiken.
Trotz dieser miserablen, aber politisch gewollten Rahmenbedingungen, ist eine Schwangerschaft zunächst einmal ein „freudiges Ereignis“ und kein Konflikt. Kinder und Familie entsprechen dem biblischen Schöpfungssegen „seid fruchtbar und mehret euch“ (1Mose 1,28). Nachkommen sind ein Segen! In der Fruchtbarkeit darf der Mensch Mitarbeiter Gottes („cooperator dei“) sein. Dies war auch die Auffassung der Reformatoren.
Die römisch-katholische Kirche hat den Schwangerschaftsabbruch für ihre Gläubigen strikt untersagt. Eine gewisse Ausnahme bildet lediglich die medizinische Indikation bei Gefahr für das Leben der Mutter[23]. Nach der Enzyklika Papst Pius XI „Casti connubii“ vom 31. Dezember 1930 ist jeder Schwangerschaftsabbruch moral- und pastoraltheologisch nicht erlaubt, ausgenommen unvorhergesehene Fälle, in denen als letzte Richtschnur das „wohlunterrichtete Gewissen“ bleibt[24]. Nach dem „Katechismus der Katholischen Kirche“ verbietet das fünfte Gebot „...die direkte Abtreibung, als Ziel oder als Mittel gewollt, und die Mitwirkung daran; dieses Vergehen wird mit der Exkommunikation bestraft, weil das menschliche Wesen von der Empfängnis an in seiner Unversehrtheit absolut zu achten und zu schützen ist...“[25]. Weiter heißt es: „Wenn sich die Staatsmacht nicht in den Dienst der Rechte aller – und besonders der Schwächsten, zu denen die Ungeborenen gehören – stellt, werden die Grundmauern des Rechtsstaates untergraben“[26]. Auch das Zweite Vatikanische Konzil hält in der „Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute“ („Gaudium et spes“) in Artikel 51 fest: „Abtreibung und Tötung des Kindes sind verabscheuungswürdige Verbrechen“[27]. Die Auffassung der römischen Kirche ist damit klar; viele weitere Beispiele von entsprechenden Verlautbarungen könnten genannt werden.
Man könnte die römisch-katholische Kirche wegen dieser Klarheit beneiden, wenn es nicht ein Problem gäbe, auf das evangelischerseits von Anfang an hingewiesen wurde: Es geht um die Familienplanung; nicht um den Schwangerschaftsabbruch, sondern um die Empfängnisregelung. Diesbezüglich nimmt die römische Kirche eine radikale Position ein. In der wichtigen Enzyklika „Casti connubii“ schreibt Papst Pius XI, der eheliche Akt sei seiner Natur nach nur zur Zeugung von Nachkommen bestimmt. Die Empfängnisverhütung sei deshalb ein unsittliches Verhalten. Papst Paul VI differenzierte nach Erfindung der sogenannten „Pille“ mit seiner Enzyklika „Humanae vitae“ vom 26. Juli 1968 diese Aussage dahingehend, dass nur die Zeitenwahl, die Wahl der unfruchtbaren Tage der Frau, und natürlich die Enthaltsamkeit als Mittel der Empfängnisverhütung sittlich erlaubt seien. Bei dieser Meinung spielt nicht die biblische Orientierung, sondern eine naturrechtliche Spekulation über „künstliche“ und „natürliche“ Mittel die ausschlaggebende Rolle.
Nun ist klar, dass bei Beachtung dieser Vorschrift das Risiko unerwünschter Schwangerschaften außerordentlich groß ist und die Familienplanung sehr erschwert wird. Insbesondere Frauen werden dadurch in Schwierigkeiten gestürzt, gerade wenn sie das Abtreibungsverbot ernst nehmen. So hat sich die evangelische Kirche, speziell aufgrund von „Casti connubii“, als Anwältin der Frauen verstanden und Familienplanung auch mit Hilfe von sogenannten „künstlichen Mitteln“ als ethisch erlaubt angesehen. Bei entschiedener Ablehnung der Abtreibung haben sich Theologen wie Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer schon um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts für eine verantwortliche Familienplanung ausgesprochen. Die Abtreibung lehnten sie jedoch ab. Abtreibung kommt als Mittel der Familienplanung keinesfalls in Frage. Karl Barth äußerte sich dazu in seiner „Kirchlichen Dogmatik“ und sprach bezüglich der Abtreibung von einem heimlichen und offenen Massenmord[28]. Dietrich Bonhoeffer schrieb, dass bei einer Abtreibung die Schuld zwar oft mehr auf die umgebende Gesellschaft als auf die betreffende Frau fällt; und doch hielt er klar fest: Dies „vermag den Tatbestand des Mordes nicht zu ändern“[29]. – Zugleich sprachen sich Barth und Bonhoeffer für verantwortliche Familienplanung aus, die nicht allein durch eheliche Enthaltsamkeit geschehen kann. Dietrich Bonhoeffer meint: „Die katholische Moraltheologie begründet ihren Rigorismus mit der Widernatürlichkeit einer Handlung, durch die der natürliche Zweck der Ehe, nämlich die Fortpflanzung, vorsätzlich verhindert wird.“[30] Zugleich stellt Bonhoeffer fest, dass durch diese Auffassung dennoch ein innerer Widerspruch in der katholischen Eheethik entsteht: „Zwar wird die Widernatürlichkeit in der Empfängnisverhütung beseitigt, dafür aber tritt die Widernatürlichkeit einer Ehe ohne leibliche Gemeinschaft an deren Stelle.“[31] – So setzte sich die evangelische Ethik in der Neuzeit stets für Familienplanung und verantwortliche Elternschaft ein. Die Last der Verantwortung soll nicht einseitig der Frau aufgebürdet werden. – Das ist gut so!
Allerdings geschah mit dieser ursprünglich guten Absicht nun doch eine verhängnisvolle Wendung, nämlich die zunehmend grundsätzliche Trennung der Sexualität von der Fruchtbarkeit und die fortschreitende Übernahme der feministischen Auffassung, die besagt, dass es in der Schwangerschaft ausschließlich um Mutter und Kind geht. Die Formel lautet: „...das Leben des ungeborenen Kindes kann nur mit der schwangeren Frau und nicht gegen sie geschützt werden“[32].
Diese Formel ist natürlich teilweise richtig; allerdings führt sie wie alle Halbwahrheiten gründlich in die Irre. Wo bleibt z.B. der Vater? Die Frau wird als völlig isoliertes Individuum angesehen und die umgebende Gesellschaft von jeder Mitverantwortung entlastet, einschließlich des Vaters. Und obwohl vom Lebensschutz geredet wird, wird das kommende Kind zumindest in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen bezüglich Tod und Leben völlig in das Belieben der Frau gestellt. Beides entspricht einander, und beides ist gleich falsch: Falsch ist sowohl die einseitige Isolierung der Frau, die als Selbstbestimmungsrecht deklariert wird; ebenso falsch ist die Verantwortungslosigkeit des gesellschaftlichen Umfeldes, welches außer der Möglichkeit der Abtreibung keine wirksamen Hilfen anbietet.
An dieser Stelle erscheint ein ethischer Schlüsselbegriff. Er lautet „Schwangerschaftskonflikt“. Ganz unbedarft und unreflektiert haben ihn auch kirchliche Verlautbarungen übernommen. Er stand im deutschen Einigungsvertrag und gehört zu den verbreiteten modernen Vexierbegriffen: Auf den ersten Blick wird etwas angesprochen, das richtig erscheint, schaut man genauer hin, soll eine zunächst nicht erkennbare Position durchgesetzt werden. Ganz selbstverständlich wird heute in Politik und Kirche vom „Schwangerschaftskonflikt“ geredet. Da sich die evangelische Kirche aufgrund der dargestellten Entwicklung als besondere Anwältin der Frau versteht, wird in kirchlichen Verlautbarungen zwar stets vom Lebensrecht des Kindes gesprochen, aber zugleich für den Fall eines sogenannten „Schwangerschaftskonflikts“ die Möglichkeit der Abtreibung als mit dem biblisch-christlichen Glauben vereinbar deklariert.
Ein Dammbruch in dieser Richtung geschah mit einer Erklärung der Landessynode der Evang.-Luth. Kirche Bayerns, die vom 14. bis 19. April 1991 in Rosenheim tagte. Nach der deutschen Vereinigung, noch bevor der Bundestag am 26. Juni 1992 das „Schwangeren- und Familienhilfegesetz“ beschlossen hatte, das dann später vom Verfassungsgericht kritisiert wurde, preschte die „Rosenheimer Erklärung“ vor. Zwar sprach sie im ersten Teil vom „Schutz menschlichen Lebens als bleibendes Gebot Gottes“, doch im harten Gegensatz dazu rechtfertigte sie im zweiten Teil einen Schwangerschaftsabbruch aufgrund einer „Notlagenindikation“. Was aber ist eine Notlagenindikation? Dies sei der Fall – so die „Rosenheimer Erklärung“ – wenn eine „Fortsetzung der Schwangerschaft nach bestem Wissen und Prüfung des Gewissens als unzumutbar“ erscheine und die „Notlage nicht auf zumutbare Weise beseitigt werden“ könne. Zwar heißt es weiter, Abtreibung könne „in jedem Fall nur ein letzter und auch immer mit Schuld aller Beteiligten verbundener Ausweg“ sein; in einer derartigen Notsituation sei jedoch daran zu erinnern, dass wir „allzumal Sünder“ sind und deshalb mit Vergebung rechnen dürften. Deshalb solle auch staatlich der Schwangerschaftsabbruch straffrei bleiben[33].
zur Fortsetzung -> Die ethische Problematik der Schwangerschaftskonfliktberatung (Teil II)
Anmerkungen Teil I
[1] Sung Hee Lee-Linke, Art. Schwangerschaftsabbruch 1, in: Evangelisches Kirchenlexikon, 3. Aufl. (EKL³), Bd. 4, Göttingen 1996, Sp. 122.
[2] So findet sich noch in der dritten Auflage von „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“ (RGG³) ein Artikel unter diesem Stichwort: Hans-Werner Vasterling, Art. Schwangerschaftsunterbrechung, in: RGG³, Bd. 5, Göttingen 1961, Sp. 1588 f.
[3] Vgl. auch die zwischen 70 und 170 n.Chr. entstandene Didache. Dort lautet es (2,2): „Du sollst nicht töten, [...] du sollst kein Kind abtreiben, du sollst kein Neugeborenes töten.“
[4] Vgl. S. H. Lee-Linke, a.a.O., Sp. 123.
[5] Nach Aristoteles vollzieht sich die Beseelung in drei Stufen: 1. anima vegetativa (oder vegetalis); 2. anima sensitiva (oder animalis); 3. anima intellectiva (oder humana).
Die Lehre von der Sukzessivbeseelung wurde 1869 durch Papst Pius IX abgeschafft. Gelehrt wird seither „Simultanbeseelung“, d.h. vom Zeitpunkt der Zeugung ab. Ein leitendes Motiv war dabei die Dogmatisierung der Lehre von der unbefleckten Empfängnis Marias.
[6] Vgl. Weimarer Ausgabe, Band 6, S. 247 (=WA 6, 247).
[7] Zitiert nach S. H. Lee-Linke, a.a.O., Sp. 124.
[8] Nach der für Jahrhunderte maßgebenden Gerichtsordnung Kaiser Karls V von 1532 wurden nur Abtreibungen, die nach der 3-Monatsfrist vorgenommen wurden, bestraft; diese allerdings sehr hart: mit Todesstrafe durch das Schwert. 1794 wurde in Preußen (Landrecht für die preußischen Staaten) die Todesstrafe abgeschafft. Das Strafmaß richtete sich nach dem Alter des Ungeborenen.
[9] So auch das Bundesverfassungsgericht; siehe: BverfGE 88, 203 [251 f.]; 39,1 [37].
[10] Zitiert nach: Manfred Spieker, Bioethische Grenzen der Demokratie. Abschiedsvorlesung an der Universität Osnabrück am 14. Nov. 2008: http: //dse.over-blog.org/article-25645670.html.
[11] Zitiert nach Manfred Spieker, a.a.O.
[12] H.-W. Vasterling, Art. Schwangerschaftsunterbrechung, in: RGG³, Bd. 5, Sp. 1588.
[13] Zitiert nach: Gisela Helwig, Frau und Gesellschaft, in: Informationen zur politischen Bildung, Heft 254; http://www.bpb.de/publikationen/D6SSWQ,1,0,Frau_und_Gesellschaft.html.
[14] Zitiert nach a.a.O.
[15] Bernward Büchner, Das „Beratungskonzept“ lässt ungeborene Kinder schutzlos, in: Die Tagespost, Nr. 135 vom 8. November 2008. (Bernward Büchner ist Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht a.D. und Vorsitzender der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e.V.).
[16] Manfred Spieker, Bioethische Grenzen, a.a.O.
[17] Ebd.
[18] Ebd.
[19] Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Menschenwürde war unantastbar. Abschied von den Verfassungsvätern: Die Neukommentierung von Artikel 1 des Grundgesetzes markiert einen Epochenbruch, in: FAZ vom 3. Sept. 2003, S. 33.35.
[20] A.a.O., S. 33.
[21] Peter Singer, Praktische Ethik, Stuttgart 1984; Originalausgabe: Practical Ethics, Cambridge 1979.
[22] „Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity”. Zitiert nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Gesundheit.
[23] Doch es gilt die Einschränkung, dass dem „natürlichen Verlauf“ der Vorzug zu geben ist.
[24] Vgl. H. W. Vasterling, Art. Schwangerschaftsunterbrechung, a.a.O., Sp. 1588.
[25] Katechismus der Katholischen Kirche. Kompendium, München 2005, S.169; gemäß CIC von 1983, Canon 1398.
[26] Ebd.
[27] Karl Rahner / Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums, Freiburg 1966, S. 503.
[28] Vgl. Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, Band III/4, Zürich 1969³.
[29] Dietrich Bonhoeffer, Ethik, Werkausgabe Band 6, München 1992, S. 204.
[30] A.a.O., S. 206.
[31] A.a.O., S. 207; vgl. auch die Denkschrift der EKD „Denkschrift zu Fragen der Sexualethik“, Gütersloh 1971, Ziffer 42, S. 29.
[32] Bernhard Felmberg, Rolle der Frau in der EKD. Anhörung vor dem Gleichstellungsausschuss des Europarates „Frauen und Religion“ am 10. September 2004 in Brüssel; http://www.ekd.de/bevollmaechtigter/stellungnahmen/52400.hmtl; dort auch Anmerkung Nr. 9.
[33] Vgl. Synode aktuell, Nr. 6, April 1991, S. 6 f., Sonntagsbeilage, hg. im Auftrag des Präsidenten der Landessynode der Evang.-Luth. Kirche in Bayern, Fr. Dieter Haack.