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Freiheitseingriffe dürfen keine undemokratische Zumutung sein


01.05.20

Freiheitseingriffe dürfen keine undemokratische Zumutung sein

Verfassungsgerichtshof des Saarlandes hebt Vollzug von Coronaeinschränkungen teilweise auf und gibt "den Menschen ein Stück Freiheit" zurück

(MEDRUM) Mit seinem Urteil vom 28.04.2020 ermöglichte der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes, dass Begegnungen in Familien ab sofort wieder möglich wurden.

Beschwerde gegen das Verbot, die eigene Wohnung zu verlassen

Ist es ein zulässiger staatlicher Eingriff, wenn eine Pandemie abgewehrt werden soll, zwei Geschwistern zu verbieten, sich in einer ihnen gehörenden Wohnung zu treffen? Mit solchen Fragestellungen hatte sich das Verfassungsgericht des Saarlandes aufgrund einer Verfassungsbeschwerde auseinanderzusetzen.

Ähnlich wie der Freistaat Bayern hat das Saarland am 17. April 2020 erhebliche Verbote in Kraft gesetzt, mit denen Bürger gezwungen werden sollten, ihre Wohnung quasi wie bei einer Arrestierung nicht zu verlassen, wenn nicht besondere Gründe als triftige Ausnahmetatbestände vorliegen. Die saarländische Regierung hat mit einer Rechtsverordnung in einer Weise in die Freiheitsrechte der im Saarland wohnenden Bürger eingegriffen, die mit verfassungsmäßig garantierten Grundrechten nicht vereinbar ist. Zu diesem Urteil kam der Verfassungsgerichtshof des Bundeslandes.

In der Rechtsverordnung der "Ministerin für Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie", Monika Bachmann, heißt es: „Das Verlassen der eigenen Wohnung ist ... nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt.“ Unter den triftigen Gründen werden im Wesentlichen die Ausübung des Berufes, Arztbesuche, Versorgung für den täglichen Bedarf und Besuch verschiedener Ladengeschäfte, Besuche bei Partnern einer Lebensgemeinschaft, Bestattungen im engsten Familienkreis, Sport und Bewegung im Freien, Termine bei Behörden, Gerichten, Rechtsanwälten und Banken sowie die Versorgung von Tieren aufgeführt. Im Falle einer Kontrolle, so die Rechtsverordnung, sind die triftigen Gründe jeweils glaubhaft zu machen (Auszug aus der Rechtsverordnung).

Gegen diese Eingriffe wurde eine Verfassungsbeschwerde eingelegt, weil sich der Beschwerdeführer in seinem Grundrecht der Freiheit der Person verletzt sah. Der Verfassungsgerichtshof hat daraufhin in einem 18 Seiten umfassenden Urteil den Vollzug dieser Einschränkungen teilweise aufgehoben. Das Gericht hat eine Vielzahl von Gründen angeführt und erläutert.

Richter legen klare Maßstäbe an die Zmutbarkeit von Freiheitseinschränkungen an

Die Richter führten aus, es sei unklar, warum ein triftiger Grund zum Verlassen der Wohnung zum Sport oder „zur Bewegung im Freien“ angenommen wird, während Menschen, die sich im Freien jedoch nicht bewegen, sondern in gebührendem Abstand von jedwedem Anderen – als Einzelner auf einer Bank in der Sonne – verharren wollen, ordnungswidrig oder gar strafbar handeln. 

Auch das Gebot, einen triftigen Grund glaubhaft machen zu müssen, um die eigene Wohnung verlassen zu dürfen, erweist sich der richterlichen Entscheidung zufolge als unzumutbar. Der Gerichtshof stellt dazu fest: „Nachvollziehbar verweist der Beschwerdeführer darauf, dass er sich mit dem Verlassen der eigenen Wohnung unmittelbar einem „Generalverdacht" aussetzt und jederzeit einen triftigen Grund glaubhaft machen können muss. Ungeachtet der von der Verordnung nicht näher geregelten Frage, welche Mittel der Glaubhaftmachung zulässig, aber auch ausreichend sind, muss der Bürger die Wahrnehmung elementarer Grundrechte jederzeit – vergleichbar einer Umkehr der Beweislast – gegenüber dem Staat rechtfertigen. Eine derartige Regelung ist nicht ohne weiteres zumutbar, denn sie könnte – vergleichbar mit den Regelungen anderer Länder – durch eine solche Regelung ersetzt werden, die die aus Gründen des Infektionsschutzes notwendigen Verbote und Beschränkungen positiv normiert und im Übrigen die verfassungsmäßig geschützte Bewegungsfreiheit unangetastet lässt.

Ein weiteres Schutzbedürfnis sah der Gerichtshof beim Eingriff in das „Grundrecht des Einzelnen auf Schutz und Förderung der Familie (Art. 22 SVerf)“. Zwar unterliegen Eingriffe, die einen über die „Kernfamilie und Erziehungsgemeinschaft hinausgehenden, verwandtschaftlich verbundenen Kreis von Personen betreffen, einer geringeren Rechtfertigungsschwelle“, sie müssten jedoch als „Begegnungsgemeinschaft“ gleichermaßen verfassungsrechtlich vor unverhältnismäßigen Eingriffen geschützt werden, so das Gericht. Dabei werde vor allem auch die „Konsistenz der Regelungen“ bedeutsam. Es leuchte nicht ein, dass eine solche Begegnung bei Vorliegen eines triftigen – außerfamiliären – Grundes, bei dem Besuch eines Ladengeschäfts, erlaubt wird, in der eigenen Wohnung indessen nicht. Wörtlich stellt das Gericht fest: „Veranschaulichend gesagt: Es leuchtet nicht ein, dass sich Geschwister in gebührendem Abstand in einem Möbelmarkt oder Baumarkt treffen dürfen, nicht aber in der eigenen Wohnung – was der gegenwärtigen Rechtslage entspricht.

Notwendigkeit muss nachgewiesen und Einschränkungen müssen schlüssig sein

Insgesamt verkennt das Gericht zwar keineswegs, dass der Staat Freiheitsrechte einschränken darf, um die Gesundheit der Bürger zu schützen, legt aber an die Notwendigkeit der Einschränkungen und ihre innere Logik strenge Maßstäbe an, die die Verfassungsrichter zumindest zum Teil als nicht erfüllt ansehen.

In ihrem Urteil stellten die Richter heraus, dass die freiheitseinschränkenden Regelungen einleuchten und in sich schlüssig sein müssen. Der Präsident des saarländischen Verfassungsgerichtshofs, Roland Rixecker, sagte zudem in einem Exklusivgespräch mit dem FOCUSNicht der Bürger muss sich rechtfertigen, warum er ein Grundrecht ausübt, sondern der Staat muss rechtfertigen, warum und für welche Dauer er in Grundrechte eingreift."

Dementsprechend stellten die Richter fest, dass selbst bei Virologen offenbar bis heute Unklarheit herrsche, wie das Virus konkret wirkt und welche Maßnahmen auf welche konkrete Weise wirklich geeignet sind, seine Ausbreitung zu vermindern oder ihr entgegenzutreten. Und weiter: „Insgesamt kann in ganz Deutschland die befürchtete exponentielle Ausbreitung der Corona-Infektionen nicht festgestellt werden.“ 

Den mit den Freiheitseinschränkungen erzielten Gewinn an Gesundheitsschutz sahen die Richter nicht als nachvollziehbar dargelegt. Neben dem Saarland habe nur noch Bayern eine vergleichbare Ausgangsbeschränkung eingeführt. Doch auch in den anderen 14 Bundesländern, die mit weniger einschneidenden Eingriffe vorgehen, sei es „weder zu einer exponentiellen Ausbreitung des Infektionsgeschehens, noch zu einer Überlastung des Gesundheitssystems gekommen“.

Den Menschen ein Stück Freiheit zurückgegeben

Aus diesen Gründen ist der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes zu dem Ergebnis gekommen, dass die Landesregierung mit dem in ihrer Rechtsverordnung in Kraft gesetzten Verbot, die eigene Wohnung zu verlassen, über das verfassungsrechtlich zulässige Maß hinausgegangen ist und dadurch die Grundrechte verletzt hat. Solche Verbote können daher nicht, wie es die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung am 23.04.20 ausdrückte, als „demokratische Zumutung“ der Pandemie, sondern müssen als "undemokratische" Zumutung der staatlichen Gewalt eingestuft werden. Das Urteil des saarländischen Gerichtshofes wirft damit auch ein kritisches Licht auf die scharfe Kritik, die von Angela Merkel am Vorgehen der Länder wegen ihrer Lockerungsabsichten geäußert wurde. Die Umsetzung von Lockerungsmaßnahmen bezeichnete Merkel als " sehr forsch, um nicht zu sagen als zu forsch". 

Mit seinem Urteil hat das Gericht insbesondere Begegnungen in Familien und das Verweilen im Freien unter Wahrung der notwendigen Abstände und der Kontaktbeschränkungen ab sofort wieder möglich gemacht. In seinem Gespräch mit dem FOCUS sagte der Präsident des saarländischen Verfassungsgerichtshofs weiter: „Wir haben den Menschen ein Stück Freiheit zurückgegeben. Wir haben ihnen wieder Mut gemacht.“

Am 29. April 2020 hat das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit einem Eilantrag im Hinblick auf ein generelles Gottesdienstverbot erklärt, dass es für ein solches Verbot auch Grenzen gibt. Die Richter am Bundesverfassungsgericht hatten festgestellt, dass es zumindest einzelfallbezogene Ausnahmen bei genauer Prüfung geben müsse (Pressemitteilung BVerfG).


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