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Prozess wegen Kindsmord - "Geküsst und geknuddelt"

Titel: 
Prozess wegen Kindsmord - "Geküsst und geknuddelt"
Quelle: 
Süddeutsche Zeitung
vom: 
28.10.10
Zum Inhalt: 

Die Eltern der zu Tode gequälten Siri aus Wetzlar sind schon verurteilt, vor Gericht geht es nun um die Rolle des Jugendamts: Eine Mitarbeiterin soll die Verletzungen des Babys ignoriert haben. Zeugen bestätigen jedoch das Bild einer nach außen hin heilen Familie.

Leserbriefe

Die Jugendamtsmitarbeiterin bekam als Studienabgängerin, also offenbar ohne besondere Erfahrung, ein Aufgabenbereich übertragen, das sie überfordert hat. 4 Monate Zwischenpraktikum und ein Jahr wissenschaftlich betreutes Berufspraktikum können auch bei besten Voraussetzungen nicht die Erfahrung und die Sicherheit geben, die man braucht, um mit vagen Informationen und kurzen Beobachtungen Fehlverhalten zuverlässig erkennen zu können. Wenn diese junge Sozialarbeiterin sagt, ihr seien bei zwei Besuchen keine Verletzungen des Kindes aufgefallen, so glaube ich ihr das genauso, wie die Angabe ihrer Beobachtung und den Schluß von Nachbarn, dass die Eltern mit ihrem Kind liebevoll umgehen. Die übelsten Unmenschen können sich meist sehr positiv präsentieren. Wie soll das ein Studienabgänger mit bestem Willen ohne die dafür notwendigen Kenntnisse und Erfahrungen richtig einschätzen? Näheres über den Studiengang Sozialarbeit an der FH Frankfurt kann man hier nachlesen http://www.fh-frankfurt.de/de/fachbereiche/fb4/studiengaenge/sozialarbeit_dipl.html

War da jemand, der die Arbeit der jungen Frau fachlich kontrolliert hat? NEIN! Kann ja auch nicht sein! Jugendämter sind auf einer Stufe im Behördensystem wie Standesämter, Einwohnermeldeämter und Zulassungsstellen für Kraftfahrzeuge. Auf dieser Stufe gibt es keine Fachaufsichten. Sie wären hier auch wenig wirkungsvoll. Auch die Aussage des Jugendamtsleiters und eines Abteilungsleiters, dass es für Hausbesuche werder rechtliche noch interne Vorschriften gibt, zeigt, wie willkürlich Jugendamtsmitarbeiter handeln können. Wo es keine Vorschriften gibt, braucht man auch Keine einhalten. So können auch der Rechtsamtsleiter der Stadt und das Regierungspräsidium Gießen der Angeklagten keine Missachtung von Vorschriften vorwerfen. Das zeigt, wie hahnebüchen eine solche Dienstaufsichtskontrolle in so einem Fall ist.

Jugendämter sind politische Organisationen, die in ihrem Rahmen dem politischen Willen dienen. Im heutigen politischen Willen hat Menschlichkeit einen sehr niedrigen Stellenwert. Das kann auch nicht anders sein, weil der Wert unseres Staates im Inlands- und Sozialprodukt gemessen wird. Je höher der Wert aller erzeugten Waren und Dienstleistungen (pro Jahr), umso besser kann sich der Staat präsentieren. Humanitäres würde in dieses Inlands- und Sozialprodukt nur einfliessen, wenn damit Geld in Bewegung gebracht, also ausgegeben würde, mit dem wieder jemand etwas kaufen oder herstellen lassen könnte. So wird auch verständlich, dass Jugendämter nicht humanitär sind. Sie können bereits auf Verdacht Kinder entziehen. Das Schwarzbuch Jugendamt schreibt, dass nur in 3 % der Inobhutnahmen die Massnahmen der Jugendämter notwendig und richtig waren. 2008 wurden durchschnittlich je Tag in Deutschland 77 Kinder in Obhut genommen. Weil nicht nur die Unterbringung dieser Kinder in Heimen und bei Pflegeeltern ein mehrfaches kostet, als der Verbleib in der eigenen Familie, sondern auch aus dem daraus resultierenden Folgekosten, leistet die Kindesentziehung ihren Beitrag zur Hebung des Inlands-Sozialproduktes.

Nun ist wieder ein Kind elend gestorben, weil das Jugendamt versagt hat. Die Jugendamtsmitarbeiterin sitzt auf der Anklagebank. Natürlich hat diese Frau versagt. Aber sie musste versagen. Niemand hat ihr das fachliche Werkzeug gegeben, das man braucht, um diese Aufgabe in den besten Interessen des Kindes und der Eltern zu erfüllen. Wer mich kennt, weiss, dass ich nicht zimperlich im Umgang mit Jugendamtsmitarbeitern bin. Aber hier ist die Niedrigste aus der Hirarche derer, die mit ihrer Tätigkeit das Wort 'Kindeswohl' so gerne in Verbindung bringen, vor dem Richter. Hier haben aber Andere, nämlich Übergeordnete und Erfahrenere oder erfahrensein Vorgebende mehr versagt, in dem sie zugelassen haben, dass dass man einer dafür nicht ausreichend ausgebildeten und unerfahrenen Person eine hoch verantwortungsvolle Aufgabe überträgt. Diese Leute gehören auch auf die Anklagebank! Der Angeklagten halte ich zu Gute, dass sie nicht zu Denen gehört, die leichtfertig auf bloßen Verdacht hin das Kind entzogen hat. Sie hatte Achtung und Respekt vor der Familie. Die Eltern der 97 % der in Obhut genommenen Kinder, die mit ihren Kindern das Leid dieses Unrechts zu ertragen haben, wissen dies zu schätzen.

Dagegen ist für mich sehr befremdend, dass eine unerfahrene Mitarbeiterin, die erst seit 9 Monaten im Amt ist, mit einer Aufgabe betraut, die viel Beobachtungsfähigkeit und Erfahrung erfordert. Ob bei der kleinen Siri eine in Obhutnahme notwendig gewesen wäre, um sie zu schützen, vermag ich auf Distanz nicht zu beurteilen. In den allermeisten Fällen reicht eine vorübergehende, aber kompetente Betreuung der Familie. Ein Ruf nach noch rascherer in Obhutnahme von Kindern, nach mehr staatlicher Kontrolle der Familien oder einer Fachaufsicht für die Jugendämter zielt daneben. Mit diesen Maßnahmen können so tragische Fälle nicht verhindert werden. Menschlichkeit und Achtung vor dem Nächsten sind gefragt! Eigenschaften, die die Angeklagte gezeigt hat. Was sie nicht haben konnte, ist die notwendige Erfahrung. Haben Ihre Dienstvorgesetzten, die sie mit dieser Aufgabe betraut haben, diese Eigenschaften? Verfügen sie über die notwendige Kompetenz, die Tragweite der Arbeit ihrer Mitarbeiter richtig einzuschätzen? Fühlen Sie sich für den Tod der kleinen Siri mitverantwortlich? Mir fällt auf, dass die Angeklagte den Vater des Kindes auf dessen Anrufbeantworter aufgefordert hat, die fehlenden Nachsorgeuntersuchungen nachzuholen. Damit war offenbar der Fall für das Jugendamt abgeschlossen. Wann ein Fall abgeschlossen ist, könnte die Dienstaufsicht überwachen. Dazu braucht man keine Fachaufsicht. Wenn eine Anordnung ergeht, und so ist die Aufforderung, die Nachuntersuchung nachzuholen, zu verstehen, so sollte von dieser Behörde auch die Befolgung dieser Aufforderung zu überwachen sein. Damit war die interne Dienstaufsicht offenbar schon überfordert.

Dieser tragische Fall in Wetzlar zeigt deutlich, dass Jugendämter gar nicht so konstituiert sind, dass sie sich für das 'Kindeswohl' (verstanden als 'Beste Interessen des Kindes') verwenden müssen. Solche traurigen Fälle können überall geschehen, und es gab sie schon viele Male. Mit Behörden wie einem Jugendamt kann man dieses Kinderelend nicht verhindern. Dazu braucht man Humanität. Humanität kann eine Behörde schon auf Grund ihrer Eigenschaft als Behörde nicht bieten. Humanität ist Menschlichkeit und Dienst am Menschen. Das kann man weder mit Gesetzen regeln, noch kann man dafür Gesetze erlassen. Was bedeutet also das 'Kindeswohl', für das die Jugendämter vorgeben, tätig zu sein? Ist 'Kindeswohl' mehr als ein schöner Name für die Tätigkeit der Jugendämter als politische Institution, die dazu beitragen, dass unser Inlands- und Sozialprodukt gehoben wird?

Herbert Greipl, 94539 Grafling