23.02.09
Eine Mutter, fünf Kinder, ein Jugendamt und die Menschenrechte
Jugendamtsmitarbeiterin beschert einer kranken Familie Angsterlebnisse und Schlafstörungen
(MEDRUM) MEDRUM wurde über einen weiteren Vorfall informiert, in dem eine Mutter und ihre Kinder durch den Besuch einer Jugendamtsmitarbeiterin und mehrere Polizeibeamte in Angst und Schrecken versetzt wurden.
Viktoria R. ist Krankenschwester und lebt mit ihren Kindern in Oberbayern südlich von München. Am vergangenen Donnerstag hütet die Familie - ausgenommen der vierjährige Sohn - das Krankenbett. Sie ist an einer Virusinfektion erkrankt: Brechdurchfall, Gliederschmerzen, Elends- und Schwächegefühl sowie Fieber haben die Familie befallen. Kurz vor 9 Uhr klingelt und klopft es heftig an ihrer Wohnungstür. Viktoria R. blickt durch den Türspion. Vor ihrer Wohnung sieht sie Frau W. vom Jugendamt und mindestens 5 Polizisten vor ihrer Türe versammelt. Sie war nicht auf einen solchen Besuch gefasst. Erst am nächsten Tag sollte ein Beratungsgespräch im Jugendamt stattfinden. Sie fragt Frau W. nach dem Grund ihres unerwarteten Erscheinens. „Sie wolle nur schauen, ob es den Kindern gut ginge", soll die Jugendamtsmitarbeitern entgegnet haben, so Viktoria R. Sie gibt der Jugendamtsmitarbeiterin zu verstehen, dass sie zur Zeit zwar erkrankt aber gut versorgt seien und jetzt keinen Besuch empfangen möchten.
Diesen Wunsch der Familie R. respektieren die Mitarbeiterin und die sie begleitenden Polizisten jedoch nicht. Sie beginnen mit kurzen Unterbrechungen Sturm zu klingeln. Immer wieder rufen sie mit lautstarker Stimme, Viktoria R. solle die Tür aufmachen. Sie drohen ihr, anderenfalls die Türe aufzubrechen. Sie sollen vielfach lautstark gegen die Tür geklopft und mindestens zehn Mal sogar gegen die Tür getreten haben, erzählt Viktoria R.. Das frei stehende Haus wird währenddessen von den Beamten umstellt. Viktoria R. vermutet, dass mit der Hausumstellung vielleicht ein Verlassen des Hauses verhindert werden sollte. Der Versuch, in ihre Wohnung durch derartige Maßnahmen Einlass zu bekommen, soll nahezu eine volle Stunde gedauert haben.
Viktoria R. erklärte zu dem Vorfall, sie sei nicht vorab über das plötzliche Aufschlagen von Jugendamt und Polizei informiert gewesen. Sie sieht auch keine Gründe, die ein solches Vorgehen des Jugendamtes in Verbindung mit einem Aufgebot mehrerer Polizeibeamter rechtfertigen könnte. Sie habe weder eines ihrer Kinder misshandelt noch vernachlässigt. Ihr sei auch nicht bekannt, dass solche Vorwürfe gegen sie erhoben worden seien. Sie könne sich lediglich vorstellen, dass man sie aufgesucht habe, weil sie einer Aufforderung der Schule zu einer Besprechung nicht gefolgt sei. Sie vermutet, dass dabei wahrscheinlich mit ihr über die Pflicht ihrer Kinder gesprochen werden sollte, nach dem Unterricht den Schulhort zu besuchen. Sie selbst wie auch ihre 13- und 16-jährigen Kinder sind allerdings nicht der Auffassung , dass die Kinder verpflichtet sind, den gesamten Tag auch nach Ende des Unterrichtes in der Schule zu verbringen. Sie und ihre Kinder wollen auch Zeit in der Familie miteinander verbringen. Da die Ganztagsschule von der Politik in der Öffentlichkeit stets als Angebot, nicht aber als eine Pflicht angepriesen wurde, ist ihr von einer Ganztagsschulpflicht nichts bekannt. Vielleicht steckt dies hinter dem zudringlichen und angsteinflößenden Vorgehen des Jugendamtes, meinte sie.
Die Mutter schildert, dass die Überraschungsaktion von Jugendamt und Polizei bei ihren Kindern erheblichen Schaden angerichtet habe: Ihr Sohn hatte sich die Bettdecke über den Kopf gezogen; eine Tochter hatte sich ins Badezimmer eingeschlossen; sie selbst hatte sich später übergeben müssen; am schlimmsten hatte es jedoch den jüngsten Sohn, gerade erst 4 Jahre alt geworden, getroffen. „Er weinte in größter Angst, zitterte am ganzen Leib, flüchtete sich unter den Esstisch und umstellte sich mit Stühlen, um sich zu verstecken und zu schützen", so Viktoria R.. Selbst als die Polizisten mit der Jugendamtsfrau abgezogen waren, traute sich der kleine Knirps zunächst nicht, wieder aus seinem Versteck unter dem Tisch hervorzukommen. Er hatte Angst, die Männer könnten jeden Augenblick wiederkommen und ihn mitnehmen und ihm Übles antun. In der folgenden Nacht fand er keinen Schlaf. Die älteren Kinder blicken bereits auf einschlägige Erlebnisse mit dem Jugendamt zurück. Denn vor drei Jahren wurde bereits ihr damals 11-jähriger Bruder Daniel aus der Familie herausgerissen. Er hatte darunter erheblich zu leiden. Zehn Monate Kontaktverbot zur Familie sowie der Aufenthalt in Kinderpsychiatrie und Heimen markieren seinen Leidensweg. Ihnen steckt dieses Erlebnis noch in den Knochen.
Die Mutter von fünf Kindern bekam nach der morgendlichen Polizeiaktion einen Krankheits- und Fieberschub. Sie fürchtet nun eine Wiederkehr der Polizei, womöglich mit einer richterlichen Genehmigung. Denn sie hat den Eindruck, dass sie einer feindlich gesonnenen Familienrichterin gegenübersteht. Viktoria R. ist entsetzt und fragt sich: „Was ist da los? Ich bin doch kein Terrorist, dass man so gegen mich, eine allein erziehende Mutter vorgeht." Noch während die Polizeibeamten vor ihrer Türe rangelten, rief sie in ihrer Angst ihren Hausarzt an und stellte das Telefon auf Lauthören, damit wenigstens eine unbeteiligte Person Zeuge der ganzen Aktion werden konnte. Wegen der traumatischen Eindrücke bei ihrem Vierjährigen konsultierte sie später ihren Arzt. Er diagnostizierte ein Angsttrauma. Angst und Schlafstörungen der Familie halten derzeit noch an.
Ein Vertrauter der Familie meinte dazu: Hier ist weder das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung nach Artikel 13 des Grundgesetzes noch die Europäische Menschenrechtskonvention beachtet worden. Er zitiert auch einen Rechtsanwalt, nach dessen Auffassung das Vorgehen der Behörden den Verdacht auf Körperverletzung nach § 223 des Strafgesetzbuches nahe legt, zu der er auch erhebliche seelische Verletzungen zählt. Das Jugendamt sei anscheinend der Auffassung, es habe das Recht, jederzeit Zugang zu allen Kindern zu bekommen und brauche für ein solches Vorgehen keine richterliche Genehmigung, so sein Eindruck. Für ihn grenzt das Ganze an eine "Terroraktion", wie er in einem Beschwerdebrief an die Behörden feststellte.
Der Vorfall bei Viktoria R. reiht sich in eine Vielzahl von Fällen ein, in denen Eltern den Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen durch deutsche Jugendämter erheben. Am 2. Februar wurde deswegen eine Protestnote an den Rat für Menschenrechte der Vereinten Nationen in Genf übergeben. Bereits im Jahr 2007 wurde in der so genannten Bamberger Erklärung das Vorgehen der deutschen Behörden verurteilt und eine Petition an das Europäischen Parlament eingereicht. Auch die ARD-Sendung PANORAMA befasste sich vor einigen Wochen mit Jugendamtseingriffen. PANORAMA zeigte auf, wie schwerwiegend die Jugendämter in das Leben von Eltern und Kindern in einigen Fällen eingegriffen haben und wie fragwürdig die Methoden und Begründungen sind, mit denen Kinder den Eltern in diesen Fällen dauerhaft weggenommen wurden. PANORAMA ließ auch einen Familienrichter zu Wort kommen, der sich offen zu den Problemen in der derzeitigen Verfahrenspraxis bei der Handhabung des Familienrechtes und des Entzugs von Sorgerechten der Eltern für ihre Kinder bekannte, in der den Jugendämtern eine starke Machtposition zukommt. Er bestätigte, dass Eltern keine außergerichtliche Möglichkeit haben, ihre Rechte gegen das Vorgehen von Jugendämtern geltend zu machen.
Trotz erheblicher Kritik am Vorgehen deutscher Jugendämter hat die Bundesregierung unter Verantwortung der Familienministerin Ursula von der Leyen erst im letzten Jahr durch gesetzliche Änderungen die Eingriffsrechte der deutschen Jugendämter erweitert. Ein angemessene staatliche Kontrolle oder eine parlamentarische Überwachung der Jugendämter fehlt jedoch, wie insbesondere auch die Präsidentin der INGO-Konferenz des Europarates (INGO: Internationale Nichtregierungsorganisationen), Anneliese Oeschger, wiederholt festgestellt hat.
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Gegendarstellung des Jugendamtes
Das Jugendamt hat zum vorliegenden Fall eine gegensätzliche Stellungnahme abgegeben, die der Schilderung des Vorfalles in wesentlichen Punkten widerspricht. Der Fall sei von der Mutter sehr einseitig geschildert, erklärte das Jugendamt in einer Stellungnahme vom 13.03.09 und stellt fest:
"Der Hausbesuch war erforderlich, um die bestehende Schulpflicht sicherzustellen. Wie die Mutter selbst erläutert hat, hat sie auf diverse Anfragen zu dieser Angelegenheit nicht reagiert. Nachdem die Familie beim Amt für Jugend und Familie Fürstenfeldbruck bekannt ist. war an dieser Maßnahme auch die zuständige Sachbearbeiterin beteiligt. Dies ist in diesen Situationen üblich. Es liegt schon in der Natur der Sache - Sicherstellung der bestehenden Schulpflicht -, dass solche Hausbesuche nicht angekündigt werden können.
Mit hinzugezogen zum Besuch am 19.02.2009 wurden 2 Jugendbeamte der zuständigen Polizeiinspektion, die in Zivil an dem Besuch teilnahmen.
Eine Umstellung des Hauses hat nicht stattgefunden. Es wurde auch zu keiner Zeit angedroht, die Türe aufzubrechen und es wurde auch nicht gegen die Türe getreten. Es wurde lediglich versucht, mit der Ankündigung, den Schlüsseldienst zu holen, die Öffnung der Türe zu bewirken. Festgehalten werden muss, dass Frau R. auf den Grund des Besuches - Sicherstellung des Besuchs des Vormittagsunterrichts - hingewiesen wurde. Die weiteren Spekulationen über den Anlass des Besuches sind haltlos. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass der Schulbesuch der Bildung und damit dem Wohl der Kinder dient."
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